Der Tag der Abreise begann zu früh. Noch vor Sonnenaufgang. Der Wecker klingelte unbarmherzig, und für einen Moment war alles wie früher: Jonas stand auf, ging duschen, packte seine letzten Sachen ordentlich zusammen. Alles lief nach Plan. Fast.
Denn diesmal war da Louisa.
Noch im Schlafanzug, barfuß, müde und mit einem Becher Hotelkaffee in der Hand, stand sie an der Balkontür und sah schweigend auf das dunkle Meer hinaus. Die Umrisse des Horizonts waren kaum zu erkennen, aber irgendwo da draußen wartete der Tag – und mit ihm zwei Flüge in verschiedene Richtungen.
„Ich hasse gutebyes“, sagte sie leise.
„Ich auch“, erwiderte Jonas und trat neben sie.
Sie standen eine Weile nebeneinander, ohne sich anzusehen, nur atmend, nur hörend. Das Meer rauschte, und in der Ferne blinkte ein Schiffslaterne. Dann nahm Louisa seine Hand.
„Weißt du, was komisch ist?“, begann sie. „Ich hab mein ganzes Leben lang nach Orten gesucht, an denen ich bleiben will. Und dann find ich zum ersten Mal so einen Ort – und der hat plötzlich ein Gesicht.“
Jonas lächelte traurig. „Und du willst trotzdem gehen?“
„Ich muss. Aber das heißt nicht, dass ich nicht zurückkomme.“
Er nickte, langsam. „Ich hab heute Nacht nicht geschlafen“, gestand er.
„Ich auch nicht.“
„Ich habe versucht, ein Szenario zu entwerfen, in dem alles perfekt aufgeht. Zwei Leben, zwei Städte, zwei Wege. Und weißt du was? Ich bin gescheitert.“
Louisa drehte sich zu ihm. „Gut so. Perfekt ist überbewertet.“
Dann küsste sie ihn. Nicht wie beim ersten Kuss, der ein Versprechen war. Dieser war ein Abschied – aber kein Ende. Er war weich, tief, traurig, voller Mut.
Als sie das Hotel verließen, nahm Jonas ihren Rucksack, obwohl er schwer war. Louisa ließ es zu, obwohl sie das sonst nie tat. Am Flughafenschalter gaben sie fast gleichzeitig ihre Tickets ab – verschiedene Fluglinien, verschiedene Terminals.
„Wir könnten einen Kompromissflughafen finden“, sagte Louisa und versuchte zu scherzen.
„Oder wir gründen einen eigenen“, entgegnete Jonas. „Zwischen uns. Halb chaotisch, halb ordentlich.“
„Mit Croissants als Bordverpflegung?“
„Und einer Boardingzeit, die immer ein bisschen Spielraum lässt.“
Dann wurde Louisa aufgerufen. Sie drehte sich noch einmal um, warf ihm einen Blick zu – und hob zwei Finger an die Stirn, wie ein lässiger Salut.
Jonas hob die Hand, fast automatisch.
Und dann war sie weg.
Die Tage danach waren seltsam.
Jonas saß in seiner aufgeräumten Wohnung. Der Koffer war längst ausgepackt, die Wäsche sortiert, der Kalender wieder voll. Aber es war nicht mehr das Gleiche.
Er vermisste das Chaos. Die Unberechenbarkeit. Das warme Lachen morgens. Das spontane Tanzen. Die Flip-Flops neben seinem akkurat abgestellten Schuhpaar.
Er vermisste Louisa.
Aber er schrieb. Zum ersten Mal seit Langem.
In das kleine Reisetagebuch, das sie ihm geschenkt hatte, schrieb er Sätze wie:
„Ich habe gelernt, dass man auch im Plan Platz lassen muss – für Wunder.“
„Sie schmeckt nach Salzluft, Sonnencreme und Unvernunft. Und ich glaube, ich liebe sie dafür.“
„Liebe lässt sich nicht durch Struktur retten. Aber vielleicht durch Sehnsucht.“
Und jeden Abend, vor dem Schlafengehen, scrollte er durch ihren Blog. Sie schrieb wieder – diesmal von einem kleinen Ort in Portugal. Ihre Texte waren voller Fernweh, aber auch voller Andeutungen. Kleine Hinweise. Fast verschlüsselte Botschaften.
„Ich habe gelernt, dass Heimkommen kein Ort ist. Sondern ein Blick.“
„Wenn du das liest: Ja, ich hab immer noch das Armband. Und nein, ich habe die Zahnpasta nicht ordentlich aufgerollt.“
Am 27. Tag nach ihrer Abreise stand Jonas plötzlich auf, nahm das Tagebuch, das Armband und ein Croissant, das er sich unterwegs geholt hatte – und fuhr zum Flughafen. Kein Plan, kein Ticket, keine Route. Nur ein Name auf einem Zettel. Louisa Kramer. Reisebloggerin. Irgendwo in Europa.
Er dachte an Regel Nummer 1: Nie aufhören, sich gegenseitig zu überraschen.
Er würde sie finden.
Nicht, weil es perfekt war.
Sondern weil es richtig war.
Und weil Liebe – so hatte er gelernt – das Einzige ist, das in keinen Plan passt, aber trotzdem immer ans Ziel führt.