Am nächsten Tag regnete es. Kein dramatischer Tropensturm, sondern ein stiller, gleichmäßiger Nieselregen, der die Welt in ein melancholisches Grau tauchte und die Fenster des Hotelzimmers mit Perlen benetzte.
Jonas mochte Regen. Er mochte das Geräusch auf dem Dach, das klare Muster auf dem Glas, den Geruch von nasser Erde. Vor allem aber mochte er, dass er an solchen Tagen ruhigen Gewissens drinnen bleiben konnte – mit Tee, Buch und Zeit für Struktur.
Louisa hingegen schien bei Regen zu schrumpfen. Nicht körperlich, aber irgendwie... innerlich. Sie saß auf dem Bett, ein Kissen im Arm, ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden, der eher aus Trotz als aus Mode entstand.
„Ich hasse Regentage im Urlaub“, sagte sie leise. „Da fühlt sich alles an wie verpasste Möglichkeiten.“
Jonas legte sein Buch beiseite. „Manchmal sind Regentage aber auch eine Chance, mal innezuhalten.“
„Klingt wie ein Spruch aus einem Kalender. Mit einem Buddha drauf.“
„Ich hab den Kalender wirklich“, gab er zu.
Sie schnaubte. „Natürlich hast du den.“
Stille. Nur das Tropfen am Fenster.
Jonas zögerte. Dann sagte er, fast vorsichtig: „Wollen Sie... vielleicht etwas machen? Drinnen? Ich habe ein Spiel dabei.“
„Ein Spiel?“ Louisa zog eine Augenbraue hoch. „So ein richtiges? Mit Anleitung und Verpackung und allem?“
„Natürlich. Ich bin nicht der Typ für spontane Würfelrunden mit Streichhölzern als Spielfiguren.“
„Ich schon“, grinste sie. „Was hast du denn da?“
Jonas holte aus seinem Koffer ein perfekt verpacktes, unversehrtes Kartenspiel mit dem Titel Fragen, die man sonst nie stellt.
„Habe ich gekauft, um... besser mit Menschen zu interagieren“, erklärte er und wurde leicht rot.
„Du meinst, du hast eine soziale Konversationshilfe laminiert.“
„…Ja.“
Sie lachte laut. „Du bist ein Rätsel, Jonas Riedmann.“
Sie setzten sich gegenüber an den kleinen Holztisch. Der Regen war plötzlich nur noch Hintergrundrauschen. Die Karten lagen zwischen ihnen wie kleine Geheimniskapseln.
Louisa zog die erste. „'Was würdest du deinem zehnjährigen Ich raten?'“ Sie schmunzelte. „Wow. Direkt die tiefen Fragen.“
Jonas überlegte. „Ich würde sagen: Lass dich nicht verrückt machen. Nicht alles muss perfekt sein.“
Sie nickte, überrascht. „Das ist... schön.“
„Und du?“
„Ich würde sagen: Du wirst irgendwann Leute treffen, die dich nicht ändern wollen. Warte einfach noch ein bisschen.“
Jonas sah sie an. Etwas an diesem Satz blieb hängen. Wie eine Notiz, die man nicht löschen will.
Nach einer Stunde hatten sie bereits gelernt, dass Louisa heimlich Gedichte schreibt, Jonas nie den letzten Bissen vom Teller isst, Louisa eine irrationale Angst vor Enten hat, und Jonas’ erster Kuss in einem Sprachkurs in Lausanne passiert war.
„Sie war Französin“, sagte er. „Es war... verwirrend. Und ziemlich feucht.“
Louisa prustete. „Und du hast es überlebt? Ohne Desinfektion?“
„Knapp.“
Dann, fast beiläufig, zog sie eine Karte, las – und stockte.
Jonas bemerkte es sofort. „Was steht drauf?“
„'Wann warst du das letzte Mal wirklich verliebt?'“
Eine lange Pause.
„Willst du aussetzen?“, fragte er behutsam.
Louisa schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist nur... komisch, wie man denkt, man hätte es schon mal erlebt – und dann merkt man später, dass es vielleicht nie echt war.“
Sie sah ihm direkt in die Augen.
„Ich glaube... ich weiß es erst jetzt.“
Jonas’ Herz setzte für einen Moment aus. Seine Finger umklammerten die Karten etwas fester. „Wie meinst du das?“
„Nichts. Nur so. Regentage machen mich sentimental.“
Sie stand auf, ging zum Fenster. Die Tropfen liefen über die Scheibe, dahinter verschwamm das Meer mit dem Himmel. Und dann, mit einem leisen Seufzer, drehte sie sich um und fragte:
„Willst du was total Spontanes tun?“
„Kommt drauf an.“
„Komm mit. Ich zeig dir mein Lieblingsgeheimnis.“
Eine halbe Stunde später, beide in Regenjacken, standen sie unter einem halb zerfallenen Pavillon auf einer kleinen Anhöhe hinter dem Hotel. Die Aussicht reichte weit über die Bucht, in der das Meer nun bleigrau glitzerte.
„Ich komme hierher, wenn ich schreiben will“, sagte Louisa. „Oder wenn ich mich verloren fühle. Hier ist alles... irgendwie still.“
Jonas nickte. Er fühlte die Stille ebenfalls. Und das Drängen in der Brust, das ihn daran erinnerte, dass etwas Wichtiges geschah. Etwas, das in keinen Zeitplan passte.
„Ich glaube, ich bin froh, dass das Zimmer doppelt gebucht wurde“, sagte er leise.
Louisa sah ihn an. Ihre Augen glänzten, nicht vom Regen.
„Ich auch.“
Und dann, ohne dass jemand das Kommando gegeben hätte, kam der Moment. Kein kitschiger Sonnenuntergang, kein dramatischer Musikeinsatz. Nur zwei Menschen unter einem alten Pavillon, umgeben von Nieselregen – und einem Gefühl, das sich wie Heimkommen anfühlte.
Jonas beugte sich vor. Louisa ebenso. Ihre Stirnen berührten sich. Noch kein Kuss. Nur Nähe. Zart. Ehrlich.
„Ich wollte nie jemanden, der mich aufräumt“, flüsterte sie.
„Und ich nie jemanden, der alles durcheinanderbringt.“
„Tja...“
„Vielleicht ist genau das der Trick.“
Und dann, als wäre der Himmel sich plötzlich ihrer Einigung bewusst, riss die Wolkendecke auf. Und über ihnen, wie bestellt, zischte eine einzelne Sternschnuppe durch den grau-blauen Abend.
Sie küssten sich.
Langsam. Fragend. Und doch ganz sicher.
Als sie sich wieder voneinander lösten, lächelten beide. Louisa warf die Kapuze zurück und ließ den Regen in ihr Gesicht tropfen.
„Na gut“, sagte sie. „Aber wenn du morgen wieder alles alphabetisch sortierst, gibt’s Ärger.“
Jonas grinste. „Dann fang schon mal an, dich zu ärgern.“
Und gemeinsam traten sie aus dem Schutz des Pavillons – in einen Regen, der plötzlich nicht mehr nach Verzicht, sondern nach Anfang schmeckte.