Zwischen Kaffee und Kompass

Kapitel 4: Herz gegen Hirn

Der darauffolgende Morgen begann nicht mit Regen, sondern mit Licht – warmem, weichem Sonnenlicht, das sich durch die halb geschlossenen Vorhänge stahl und auf Louisa's Schulter tanzte, als wäre es selbst verliebt. Jonas saß bereits am kleinen Tisch, doch diesmal hatte er keine Liste vor sich. Keine Karte, kein Plan, nicht mal ein Stadtführer.

Er sah sie einfach nur an.

Louisa schlief noch. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ein Arm baumelte über den Bettrand, ihr Atem war ruhig. Es war das erste Mal, dass Jonas sie so still sah. Und zum ersten Mal in seinem Leben fragte er sich, ob Ordnung wirklich immer das höchste Ziel sein musste.

Er wollte diesen Tag nicht planen.

Er wollte ihn fühlen.

Als Louisa aufwachte – was, wie immer, ein Prozess war, bei dem man den Eindruck bekam, eine Schildkröte würde versuchen, sich rückwärts aus ihrem Panzer zu drehen – bemerkte sie sofort, dass etwas anders war.

„Du sitzt da und glotzt mich an. Was ist los? Ist das Zimmer in Flammen? Haben sie das Frühstück gestrichen?“

„Nein“, sagte Jonas ruhig. „Ich denke nur darüber nach, wie der perfekte Tag aussieht.“

Sie gähnte. „Und? Mit oder ohne Schoko-Croissants?“

„Mit dir“, sagte er.

Ein Satz, so schlicht, dass er fast unbeholfen wirkte. Und gerade deshalb traf er.

Louisa lächelte. „Du wirst langsam gefährlich, Jonas Riedmann.“

Sie gingen ohne Ziel los. Ohne Karte. Ohne Route. Für Jonas war das ein Sprung ins kalte Wasser – aber es war Louisa, die ihm Mut machte.

„Vertrau mir. Die besten Dinge findet man, wenn man nicht nach ihnen sucht.“

Sie landeten an einem kleinen Wochenmarkt, wo Louisa an jedem zweiten Stand stehen blieb, um Obst zu probieren oder handgemachten Schmuck zu bestaunen. Jonas beobachtete sie, wie sie mit den Verkäufern lachte, sich auf Spanisch bedankte (sie sprach es nur rudimentär, aber mit Inbrunst), und dabei aussah, als gehöre sie genau hierher – ins Leben.

„Willst du was kaufen?“, fragte sie irgendwann.

„Ich... bin eigentlich kein Fan von Souvenirs.“

„Nicht mal von diesen Tassen mit albernem Aufdruck?“

„Besonders nicht von denen.“

Sie grinste. Dann hob sie etwas hoch: ein handgefertigtes Armband aus Leder und bunten Perlen. Nichts Besonderes – und doch einzigartig.

„Für dich“, sagte sie. „Keine Angst. Es ist farblich neutral und hat exakt sieben Perlen. Unregelmäßig regelmäßig.“

Jonas nahm es – und steckte es sich ans Handgelenk. Ganz ohne Protest. Louisa sah ihn an, als hätte er gerade ein Gedicht geschrieben.

Am Nachmittag fanden sie einen verlassenen Bootssteg, verborgen hinter einem Palmenhain. Die Sonne brannte nicht mehr so stark, die Luft war mild. Jonas zog die Schuhe aus, setzte sich ans Wasser, und ließ die Beine baumeln. Louisa tat es ihm gleich.

„Wenn ich nicht wüsste, dass du Excel-Tabellen farblich codierst, würde ich sagen, du bist fast cool“, sagte sie.

„Ich habe Excel heute nicht ein einziges Mal geöffnet.“

„Siehst du? Fortschritt.“

Eine Möwe kreischte irgendwo. Kleine Wellen platschten ans Holz. Dann, ohne Vorwarnung, griff Louisa nach seiner Hand.

„Weißt du, was ich mich frage?“, sagte sie.

„Was?“

„Ob das hier nur so schön ist, weil es bald endet.“

Jonas runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

„Naja... Wir sind hier in so einer kleinen Blase. Hotel, Sonne, Frühstück mit Aussicht. Aber was ist, wenn wir wieder in der echten Welt sind? In der Realität, mit Steuererklärungen und Müllrausbringen?“

Er sah sie ernst an. „Du meinst, ob wir dann noch funktionieren.“

„Ja.“

Jonas dachte nach. Dann sagte er: „Ich glaube nicht, dass wir funktionieren müssten. Vielleicht geht’s nicht ums Funktionieren. Vielleicht geht’s nur darum, weiter ehrlich zueinander zu sein.“

Louisa schwieg einen Moment. Dann: „Du bist furchtbar romantisch, weißt du das?“

„Ich bemühe mich.“

Sie lehnte sich an ihn. Der Wind spielte mit ihrem Haar.

Und zum ersten Mal sprach keiner mehr. Sie saßen einfach nur da – nebeneinander, Hand in Hand – während die Sonne langsam Richtung Horizont wanderte und das Licht die Welt in Gold tauchte.

Am Abend im Zimmer war alles still. Keine Musik. Kein Lachen. Nur ein Koffer, den Jonas langsam auf das Bett hob.

„Es sind schon drei Tage rum“, sagte er.

Louisa nickte. „Ich weiß.“

„Morgen kommt deine Suite frei.“

Sie sagte nichts. Stattdessen trat sie zu ihm, legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihn lange an.

„Willst du wirklich, dass ich umziehe?“

Er sah sie an. Dann schloss er den Koffer.

„Nein.“

Und plötzlich war alles klar. Nicht, weil es laut ausgesprochen wurde. Sondern weil ihre Blicke es taten. Weil ihre Herzen es längst wussten.

Louisa schloss den Koffer wieder auf.

Und packte ihre Sachen aus.

Es war nicht der letzte Tag. Sondern der erste.

Fortsetzung folgt...
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