Am nächsten Morgen weckte Jonas nicht der Wecker, sondern das Gefühl, dass die Welt gerade genau an der richtigen Stelle drehte.
Louisa lag mit dem Rücken zu ihm, ihr Atem gleichmäßig, ein warmer Hauch auf seinem Arm. Der Gedanke, dass sie nicht mehr „morgen ausziehen“ würde, war ein seltsames, bittersüßes Ziehen irgendwo zwischen Brustbein und Magen. Kein Schmerz – eher so etwas wie ein Echo eines Wunsches, der sich gerade verwirklichte.
Er drehte sich leise auf den Rücken und starrte an die Decke.
Wie war das passiert?
Wie war aus der Frau mit den Flip-Flops und dem Pfeffer im Marmeladenglas plötzlich jemand geworden, bei dem er sich zu Hause fühlte?
Und warum fühlte sich das so verdammt richtig an?
Plötzlich drehte Louisa sich zu ihm um, die Augen noch halb geschlossen, ein verstrubbelter Haarbüschel über der Stirn.
„Du denkst zu laut“, murmelte sie.
„Ich denke gar nicht. Ich versuche nur, es nicht kaputt zu analysieren.“
Sie lächelte verschlafen. „Erfolgschance: fünfzig Prozent.“
„Ich arbeite daran.“
Dann, nach einem Moment: „Frühstück?“
„Nur wenn du versprichst, heute keine Chili aufs Croissant zu schmieren.“
„Versprochen. Aber nur, wenn du versprichst, nicht wieder alle Brötchenhälften symmetrisch belegst.“
Er seufzte. „Wir haben wirklich harte Kompromisse geschlossen.“
Nach dem Frühstück – bei dem Louisa tatsächlich die Finger von den scharfen Saucen ließ und Jonas nur zwei Marmeladen parallel auf einem Brötchen testete – machten sie sich auf, um zum ersten Mal gemeinsam einen ihrer Lieblingsorte zu besuchen: das kleine, windschiefe Antiquariat am Rand der Altstadt.
„Du wirst es lieben“, sagte Louisa. „Es riecht nach altem Papier und unbeantworteten Briefen.“
„Mein absoluter Lieblingsduft“, murmelte Jonas trocken.
Der Laden war ein Wunder. Bücher türmten sich bis zur Decke, in schmalen Gängen, auf Tischen, sogar auf der Fensterbank neben einer schnurrenden Katze, die aussah, als wäre sie Teil der Einrichtung.
Louisa verschwand sofort zwischen zwei Regalen.
Jonas blieb am Eingang stehen, überfordert – und irgendwie fasziniert.
Er mochte Bücher. Ordnungsliebend sortierte Bücher. In alphabetischen Regalen. Mit Inventarlisten.
Hier war alles anders. Und doch... stimmig. Lebendig.
Er ging tiefer hinein, und plötzlich stand Louisa wieder neben ihm. In den Händen hielt sie ein altes, abgegriffenes Reisetagebuch mit braunem Ledereinband.
„Für dich“, sagte sie einfach.
„Ich schreibe keine Tagebücher“, entgegnete er.
„Du planst doch so gerne. Plan dein Herz. Oder schreib auf, wie sich Dinge anfühlen. Ich schwöre, es hilft.“
Er nahm das Buch in die Hand. Es war alt. Es roch nach Geschichten. Und ein bisschen nach ihr.
„Vielleicht fang ich damit an, wie chaotisch du bist.“
„Solange du mich am Ende in der Danksagung erwähnst, ist alles okay.“
Am späten Nachmittag saßen sie in einem kleinen Café am Hafen. Jonas hatte gerade seinen Kaffee gerührt – exakt vier Umdrehungen, wie immer – als Louisa plötzlich sagte:
„Ich hab das Gefühl, wir sind am Anfang von etwas. Aber gleichzeitig... läuft die Uhr rückwärts.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja... In zwei Tagen geht mein Flug zurück. Und deiner auch. Getrennte Leben. Getrennte Städte. Getrennte Betten.“
Jonas’ Löffel blieb stehen.
Es war die erste echte Konfrontation mit dem, was sie beide verdrängt hatten.
„Muss es getrennt bleiben?“, fragte er vorsichtig.
Louisa schwieg. Dann sah sie ihn an – ernst, verletzlich.
„Ich hab keine Ahnung, wie das gehen soll. Ich lebe aus dem Rucksack. Ich bin nie lange an einem Ort. Du... du bist wahrscheinlich der einzige Mensch, der eine Kalender-App auf drei Geräten synchronisiert.“
„Und trotzdem…“, sagte er, „fühlt es sich falsch an, das hier einfach enden zu lassen.“
Sie atmete tief ein. Und nickte.
„Vielleicht“, sagte sie leise, „ist Liebe ja nicht, wenn alles perfekt passt. Sondern wenn man trotzdem bleiben will – obwohl es nicht passt.“
Jonas lächelte. „Dann lieben wir uns wohl.“
Es war das erste Mal, dass jemand es laut sagte.
Und keiner von beiden nahm es zurück.
Später am Abend, im Hotelzimmer, fingen sie an, zu planen.
Ja, wirklich. Louisa – die spontane, impulsive, von Wind und Wetter getriebene Louisa – saß am Tisch mit Jonas und skizzierte auf einem Blatt Papier eine Idee für danach. Für das Danach, das eigentlich keiner geplant hatte.
„Ich könnte mal länger an einem Ort bleiben“, sagte sie. „Ein Blog über 'stationäre Reisen' – klingt seltsam, aber... vielleicht finde ich was draus.“
„Und ich... könnte etwas lockerer planen. Vielleicht mal einen leeren Nachmittag lassen. Für Unvorhergesehenes. Für dich.“
Sie sah ihn an. „Bist du sicher?“
„Nein. Aber ich will es trotzdem.“
Dann beugte sie sich zu ihm und schrieb unter den Plan:
Regel Nummer 1: Nie aufhören, sich gegenseitig zu überraschen.
Regel Nummer 2: Immer mindestens ein Croissant im Haus.
Regel Nummer 3: Liebe braucht kein System. Nur Mut.
Jonas lachte. „Und was, wenn wir scheitern?“
Louisa grinste. „Dann schreiben wir eben eine richtig gute Geschichte drüber.“
Und genau das taten sie – jeden Tag ein neues Kapitel. Ohne Inhaltsverzeichnis. Aber mit Herzen auf jeder Seite.