Splitterseele

Kapitel 9: Die Stimmen der Vergangenheit

Drei Tage waren vergangen, seit Lyra aus Thaloria verschwunden war. Die Nebelstadt begann sich langsam zu erholen. Die Einwohner reparierten ihre Häuser, heilten ihre Wunden – körperlich wie seelisch – und feierten die Hüter der Splitter als Helden. Doch in Finnian brannte noch etwas anderes als Triumph: eine Unruhe, ein leises, nagendes Gefühl in der Tiefe seines Geistes, als würde etwas oder jemand ihn rufen.

In der Nacht, während die anderen schliefen, saß Finnian allein auf einer Terrasse oberhalb des Kristalltempels. Die Lichter der Stadt glommen schwach durch den Nebel, und über ihm funkelten die Sterne wie stumme Zeugen vergangener Zeitalter.

Du fühlst es auch, nicht wahr?, flüsterte seine Splitterseele sanft.

„Ja“, murmelte Finnian. „Seit dem Kampf mit Lyra. Etwas... hat sich verändert.“

Die Verbindung zum Ursplitter hat dich geöffnet. Nicht nur für die Gegenwart – auch für das, was war.

„Du meinst… Erinnerungen?“

Mehr als das. Die Splitter erinnern sich. Und sie wollen, dass du es auch tust.

Bevor Finnian fragen konnte, was das bedeuten sollte, breitete sich eine warme Welle aus Licht um ihn aus. Die Kristallplatte unter seinen Füßen begann zu leuchten, und ohne Vorwarnung wurde sein Bewusstsein fortgetragen – weit weg von Thaloria, hinein in eine andere Zeit.

Er fand sich auf einem hohen Plateau wieder, umgeben von Wind und Licht. Vor ihm erstreckte sich eine mächtige Stadt aus weißem Marmor, mit türkisfarbenen Dächern und Türmen, die in die Wolken ragten. Menschen in prächtigen Gewändern wandelten zwischen gewaltigen Kristallen, die in der Luft schwebten und magische Energie ausstrahlten.

Finnian erkannte sofort, wo er war: Arkanthar, die alte Hauptstadt des Kristallbundes – zerstört vor Jahrhunderten in den Kristallkriegen. Doch jetzt war sie lebendig, golden und voller Hoffnung.

„Du siehst, was war“, sagte eine Stimme neben ihm. Eine Frau stand dort, ihre Haut bronzen, ihre Augen klar wie Bergwasser. In ihrem Stirnband war ein vertraut schimmernder Splitter eingelassen – blauviolett, wie der von Finnian.

„Wer bist du?“, fragte er leise.

„Mein Name war Serai“, sagte sie mit einem sanften Lächeln. „Ich war einst die Hüterin deines Splitters – vor deiner Zeit, in einer anderen Welt.“

Finnian rang nach Worten. „Was geschieht hier? Warum zeigst du mir das?“

Serai trat an den Rand des Plateaus und blickte auf die Stadt. „Weil die Vergangenheit sich wiederholt. Weil du verstehen musst, worum es wirklich geht.“

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Eine Welle aus schwarzem Nebel legte sich über Arkanthar. Schreie ertönten, Kristalle zerbarsten, Gebäude stürzten ein. Finnian beobachtete fassungslos, wie dieselbe Zerstörung über die Stadt hereinbrach, wie in den alten Legenden beschrieben.

„Wir waren wie ihr“, sagte Serai traurig. „Verbunden durch Licht, stark im Glauben an das Gute. Doch wir unterschätzten die Dunkelheit – und die Macht, die sie verspricht.“

„Lyra…“, flüsterte Finnian.

Serai sah ihn an. „Lyra war nicht die Erste. Es gab viele wie sie. Manche fielen, andere wurden gerettet. Doch die wahre Gefahr ist nicht Lyra allein.“

Finnian blickte sie an, verwirrt. „Was meinst du?“

„Die Dunkelheit selbst besitzt ein Bewusstsein“, antwortete Serai. „Ein uraltes Wesen, das einst versiegelt wurde – im Zentrum der Welt, tief unter dem ersten Kristall. Es flüstert, verführt, zerreißt. Und Lyra... sie ist nur das erste Werkzeug.“

Finnian spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. „Dann war das alles... nur ein Teil eines größeren Plans?“

Serai nickte. „Und nun beginnt es erneut. Du musst die restlichen Splitter finden, die alten Hüter wecken. Nur vereint könnt ihr dem Dunkel entgegentreten – bevor es erneut alles verschlingt.“

„Aber... wie? Wo sollen wir beginnen?“, fragte Finnian verzweifelt.

Serai trat näher, ihre Hand streifte seine Stirn. In dem Moment durchzuckte ihn eine Vision – fremde Länder, versunkene Tempel, ein gewaltiger Baum mit Kristallen in seinen Ästen… und am Ende: ein Tor aus reiner Dunkelheit, tief unter der Erde.

„Folgt dem Pfad des Ursprungs“, sagte sie leise. „Und haltet das Licht in euch lebendig – vor allem dann, wenn es zu erlöschen droht.“

Dann verblasste die Stadt. Die Geräusche verklangen, die Farben lösten sich auf wie Rauch im Wind.

Finnian schlug die Augen auf. Er saß noch immer auf der Terrasse von Thaloria, doch der Morgen graute bereits. Vögel begannen zu singen, und über den Dächern der Stadt lag ein silberner Schimmer.

„Du bist zurück“, sagte Elara leise hinter ihm. Sie trat aus dem Schatten, ein Becher dampfenden Kräutertees in der Hand. „Du warst die ganze Nacht hier.“

Finnian nickte langsam. „Ich habe… jemanden getroffen.“

Elara setzte sich neben ihn. „Eine Erinnerung?“

„Mehr als das“, sagte Finnian und wandte sich ihr zu. „Wir sind nicht die Ersten. Und das hier ist größer, als wir dachten.“

Er erzählte ihr alles, was er gesehen hatte, jedes Bild, jedes Wort. Als er geendet hatte, sah sie ihn lange schweigend an. Schließlich legte sie ihre Hand auf seine.

„Dann finden wir diesen Pfad. Gemeinsam.“

Finnian lächelte müde, aber voller neuer Entschlossenheit.

Der Pfad des Ursprungs – er wusste nun, dass er sie dorthin führen würde, wo alles begonnen hatte.

Und vielleicht… wo alles enden würde.

Fortsetzung folgt...
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