Als die vier Hüter mit den Fragmenten des dreizehnten Splitters aus der Tiefe zurückkehrten, war es, als hätte sich die Welt verändert – nicht sichtbar, nicht hörbar, aber spürbar in jedem Herzschlag, in jedem Windstoß, in jeder Welle Magie, die nun durch die Luft vibrierte. Es war nicht nur Licht, das in ihnen brannte. Es war Ganzheit.
Thaloria empfing sie schweigend, ehrfürchtig. Die Menschen dort spürten es – ohne Worte, ohne Erklärung. Finnian und seine Gefährten waren nicht mehr nur Hüter. Sie waren Bindeglieder geworden – zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte.
Doch sie wussten auch: Ihre Reise war nicht vorbei. Sie stand erst am Anfang eines neuen Pfades.
Am Tag ihrer Rückkehr rief Meister Liron sie in die Halle des Ursplitters. Die Kristallkuppel war erfüllt von sanftem Licht, doch unter der Oberfläche des Ursplitters flackerte es nun dunkler als zuvor – nicht bedrohlich, sondern tief, voll neuer Erkenntnis.
„Ihr habt ihn berührt“, sagte Liron, mehr eine Feststellung als eine Frage. „Der dreizehnte Splitter hat euch erwählt.“
Finnian trat vor, spürte die Kraft des neuen Fragments in seiner Brust, verschmolzen mit dem alten. „Er ist nicht das Ende. Er ist der Anfang von allem, was wir verdrängt haben.“
„Ja“, sagte Liron. „Und mit dieser Erkenntnis öffnet sich nun die letzte Schwelle. Die Grenze zwischen unserer Welt und der Sphäre, die niemals hätte erwachen sollen.“
Er wandte sich einem uralten Mosaik an der Rückwand zu, das bis dahin verborgen gewesen war. Mit einer einzigen Berührung offenbarte sich darunter ein kreisrundes Portal – verschlossen durch zwölf Ringe, jeder geprägt mit einem Symbol eines Splitters.
Doch nun hatte sich ein dreizehnter Ring gebildet. Dunkel, schlicht, aber lebendig.
„Was liegt dahinter?“, fragte Kaelan leise.
Liron blickte ernst in die Runde. „Der Ursprung der Dunkelheit. Nicht als Macht, sondern als Wesen. Eine Entität, die einst das Gleichgewicht war – bevor die Hüter sie abspalteten und einsperrten. Sie war der dreizehnte Aspekt. Und nun... erwacht sie.“
„Warum jetzt?“, fragte Elara.
„Weil sie euch spürt“, antwortete Liron. „Weil sie weiß, dass ihr der Schlüssel zur Wiedervereinigung seid. Und zur Entscheidung, ob sie wieder Teil dieser Welt wird – oder alles mit sich reißt.“
Finnian trat näher ans Portal. Die Symbole der Splitter begannen zu leuchten, als würde das Portal ihn erkennen.
Du musst nicht kämpfen, flüsterte seine Seele. Du musst verstehen.
Doch Finnian wusste: Manches Verständnis kommt nicht durch Worte – sondern durch Begegnung.
Er legte seine Hand auf den dreizehnten Ring. Die anderen taten es ihm gleich. Die Splitter in ihren Körpern reagierten, pulsierten im Takt – wie ein Herzschlag, der nicht nur zu viert, sondern einstimmig schlug.
Mit einem tiefen Grollen öffnete sich das Portal. Kein Licht kam heraus. Auch keine Dunkelheit. Nur… Leere. Ein Übergang zwischen Sein und Nichtsein.
„Wenn ihr geht, kann ich euch nicht folgen“, sagte Liron. „Jenseits dieser Schwelle existieren keine Götter, keine Regeln, keine Zeit.“
„Aber unsere Verbindung bleibt“, sagte Elara sanft.
„Und euer Licht bleibt mit uns“, fügte Gavrin hinzu.
Kaelan nickte. „Was auch geschieht – wir kehren nicht mehr dieselben zurück.“
Finnian atmete tief durch, sah noch einmal in die Gesichter seiner Gefährten. Kein Zweifel. Kein Zögern. Nur Entschlossenheit. Und Liebe.
„Dann lasst uns das Gleichgewicht suchen. Oder es neu erschaffen.“
Sie traten durch das Portal.
Was sie dahinter fanden, war jenseits aller Vorstellung.
Kein Ort. Kein Raum. Nur ein gewaltiger Strom aus Erinnerungen, Möglichkeiten und Emotionen, durchzogen von Lichtadern und Schattenwirbeln. Die Zeit existierte nicht mehr. Und doch fühlte sich alles bedeutsamer an als je zuvor.
Inmitten dieses Chaos formte sich langsam eine Gestalt. Kein Gesicht. Kein Körper. Nur Präsenz.
Willkommen, sagte eine Stimme, die wie tausend Gedanken gleichzeitig klang. Ihr tragt mich. Und doch habt ihr mich verleugnet.
Finnian trat vor. „Du bist der Ursprung?“
Ich bin das, was ihr getrennt habt. Um das Licht zu retten. Und das Gleichgewicht zu verlieren. Ich war nie Feind. Nur Erinnerung. Und ihr habt mich eingesperrt.
Elara flüsterte: „Weil wir Angst hatten, was du uns zeigen würdest.“
Und jetzt?, fragte die Stimme. Habt ihr den Mut, mich wieder anzunehmen? Zu werden, was ihr wirklich seid? Nicht nur Hüter. Sondern Ganzheit.
Ein letzter Moment der Stille. Dann trat Finnian vor. Nahm das Fragment, das einst aus der Welt gestoßen wurde – und presste es sich aufs Herz.
Ein gleißendes Licht entfaltete sich. Kein weißes, reines Licht. Sondern ein Kaleidoskop aus allen Farben, allen Schatten, aller Wahrheit.
Die Splitter verschmolzen.
Mit einem Klang, der eher Empfindung war als Ton, öffnete sich das neue Bewusstsein.
Sie sahen sich selbst. Die Vergangenheit. Die Fehler. Die Hoffnung. Die Menschen, die gefallen waren. Die, die aufstanden. Und sie verstanden:
Nicht das Licht, nicht die Dunkelheit, sondern ihr Einklang war das, was die Welt retten konnte.
Als sie erwachten, lagen sie im Gras – unter offenem Himmel. Der Weltenbaum ragte über ihnen auf, still und würdevoll. Das Portal war verschwunden.
Finnian öffnete die Augen. Die Welt fühlte sich neu an. Nicht verändert – sondern heil.
Kaelan stand langsam auf. „Sind wir… zurück?“
„Nein“, sagte Elara sanft. „Wir sind vorwärts gegangen.“
Gavrin legte die Hand auf seinen Brustkorb. „Ich spüre ihn noch… den dreizehnten Splitter. Nicht als Fremdes. Sondern als Teil von mir.“
Finnian lächelte. Nicht aus Erleichterung. Sondern aus Erkenntnis.
„Dann lasst uns heimkehren. Nicht als Helden. Sondern als Hüter der Ganzheit.“
Und während sie durch das erwachende Land gingen, wusste Finnian:
Dies war nicht das Ende der Geschichte.
Sondern der Anfang einer neuen Welt.
Einer, die bereit war, sich selbst zu sehen.
Und endlich ganz zu sein.