Splitterseele

Kapitel 13: Die neue Ordnung

Die Rückkehr der Hüter blieb nicht unbemerkt. Überall in der Welt spürten Menschen, Magier, Tiere – selbst die Elemente selbst – dass sich etwas verschoben hatte. Es war, als würde die Erde unter ihren Füßen wieder ruhig atmen, als hätte eine jahrhundertealte Wunde sich geschlossen. Und doch war es keine triumphale Heimkehr mit Fanfaren oder Festen. Es war leise. Sanft. Wie der erste Sonnenstrahl nach einem langen Sturm.

Finnian und seine Gefährten kehrten nach Thaloria zurück, doch diesmal wartete kein Empfang, keine jubelnde Menge. Die Stadt stand still – nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht. Die Menschen sahen sie kommen und wussten: Diese vier waren nicht mehr einfach nur Träger der Splitter.

Sie waren Boten einer neuen Welt.

Meister Liron empfing sie im innersten Kreis des Kristalltempels. Sein Blick war ruhig, fast wehmütig.

„Ihr habt die Schwelle überschritten“, sagte er mit leiser Stimme. „Und ihr seid zurückgekehrt. Nicht verändert – sondern vollständig.“

Finnian trat vor. „Wir haben gesehen, was war – und was hätte sein können. Und wir haben verstanden, was sein muss.“

Er streckte die Hand aus. Die Splitter in ihm antworteten sofort. Aus seinem Körper formte sich ein Lichtkreis, in dem alle dreizehn Farben aufleuchteten – ein lebendiges Mandala aus Magie, Erinnerung und Erneuerung. Die anderen taten es ihm gleich, und gemeinsam erhoben sie ihre Kräfte, nicht zum Angriff, sondern zur Verbindung.

Der Ursplitter in der Halle reagierte. Erst zögerlich, dann voller Kraft. Er zerbarst nicht – er öffnete sich. Und aus ihm strömte ein Licht, das nicht blendete, sondern heilte. Eine Essenz, die die Risse der Welt berührte und sie still begann zu schließen.

„Was geschieht?“, fragte Liron ehrfürchtig.

„Die Ordnung wird neu geschrieben“, sagte Elara. „Nicht von oben. Nicht von einem Willen allein. Sondern durch Gleichgewicht.“

Kaelan trat vor das große Mosaikfenster, durch das das Morgenlicht fiel. „Die alten Regeln waren nötig, um die Welt zu schützen. Doch nun müssen wir sie loslassen. Denn Kontrolle ist keine Heilung.“

Gavrin, sonst wortkarg, sprach fest: „Die Splitter gehören nicht länger wenigen. Ihre Kraft ist in allem. In jedem, der bereit ist, sie zu tragen – mit Demut, nicht mit Anspruch.“

Liron senkte das Haupt. „Dann ist meine Zeit vorbei. Und eure beginnt.“

Er trat zurück. Und ohne ein weiteres Wort begaben sich die vier Hüter in die Mitte des Tempels. Dort verbanden sich ihre Splitter, nicht zu einem neuen Artefakt, sondern zu einem lebenden, atmenden Kern – eine neue Quelle. Kein Machtinstrument. Sondern eine Resonanz.

Die Resonanz der Welt.

In den Wochen danach veränderte sich vieles – langsam, doch unwiderruflich.

Die Splitterkräfte begannen, sich in anderen zu zeigen: in Kindern, in Alten, in Bauern und Heilerinnen. Nicht willkürlich, sondern sanft erwachend, wie ein Lied, das sich endlich wieder erinnert. Die Zeit der Auserwählten war vorbei.

Stattdessen begann das Zeitalter der Gemeinschaft.

Die Hüter gründeten kein neues Reich, keine neue Kirche, keine neue Hierarchie. Sie errichteten eine Stätte tief im Herzen von Arklanor, dort, wo einst Trümmer lagen. Ein Ort des Lernens. Des Teilens. Des Heilens.

Sie nannten ihn Siraeon – das Haus der Stimmen.

Denn hier sollte jede Stimme gehört werden. Nicht nur die der Magie. Sondern auch die der Erinnerung, der Angst, der Hoffnung.

Eines Abends, Monate später, saß Finnian auf der breiten Mauer von Siraeon. Der Wind trug den Duft frischer Blumen über das Tal, und am Horizont funkelten die Sterne. Neben ihm saß Elara, ihr Blick ruhig, doch wach.

„Denkst du manchmal zurück?“, fragte sie leise.

Finnian nickte. „An das Dorf. An den Moment, als ich den Splitter fand. Ich frage mich, ob ich ihn gewählt habe – oder ob er mich gewählt hat.“

„Vielleicht war es beides“, sagte Elara. „Vielleicht ist das die Wahrheit: dass wir den Weg gehen, der uns ruft – und dabei entscheiden, wer wir werden.“

Finnian lächelte schwach. „Und wer sind wir geworden?“

„Nicht Helden“, sagte sie. „Nicht Retter. Nur Menschen. Die den Mut hatten, hinzusehen. Und zu bleiben.“

Ein sanftes Licht glomm aus ihren Händen, vermischte sich mit Finnians. Keine Zauberei. Kein Ritual. Nur zwei Herzen, die im gleichen Takt schlugen.

Hinter ihnen, in den Hallen von Siraeon, klang leises Lachen. Stimmen in vielen Sprachen. Geschichten, geteilt bei Kerzenlicht. Alte Lieder. Neue Namen.

Die Welt war nicht perfekt geworden.

Aber sie war ehrlich geworden.

Und Finnian wusste: Das war genug.

Ende.
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