Splitterseele

Kapitel 11: Das dreizehnte Fragment

Die Schwärze jenseits des geöffneten Tors war vollkommen. Kein Licht drang hinein, nicht einmal das der Splitter, die in den Händen der Hüter leuchteten. Es war, als hätte die Dunkelheit selbst die Regeln der Welt gebrochen – als sei sie nicht bloß das Fehlen von Licht, sondern eine lebendige, uralte Macht, die mit hungrigem Atem auf sie wartete.

Finnian trat als Erster über die Schwelle. Kaum hatte sein Fuß den Boden im Inneren berührt, wurde er von einem Schwindelgefühl erfasst. Die Welt kippte, als hätte der Raum kein Oben und Unten, kein Vorwärts oder Rückwärts. Doch nach einem Moment stabilisierte sich die Wahrnehmung wieder – zumindest scheinbar.

Hinter ihm folgten Elara, Gavrin und Kaelan, vorsichtig und wachsam. Gemeinsam standen sie nun in einer weiten, kuppelartigen Höhle, deren Decke nicht zu erkennen war. Aus der Tiefe stieg eine düstere, pulsierende Energie auf. Und im Zentrum… thronte ein Sockel.

Darauf ruhte ein Kristall, dunkler als jede Nacht, und doch durchzogen von silbernen Lichtadern, die wie zuckende Gedanken durch ihn hindurch jagten. Er war größer als die Splitter der Hüter, fast so groß wie ein Herz – als sei er lebendig.

Finnian spürte, wie sein eigener Splitter bebte. Nicht vor Furcht, sondern vor Erkenntnis.

„Das… ist er“, flüsterte Kaelan. „Der dreizehnte Splitter.“

Elara trat vorsichtig näher. „Ich spüre… etwas. Stimmen. Erinnerungen, die nicht meine sind.“

„Er ist das, was die anderen nicht sein konnten“, sagte Gavrin leise. „Er enthält alles – Licht, Dunkelheit… Wahrheit.“

Plötzlich durchdrang eine Stimme die Luft. Tief, mehr gefühlt als gehört. Sie sprach nicht in Worten, sondern in Emotionen, in uralten Bedeutungen, die sich in ihre Seelen gruben:

Warum habt ihr mich gesucht?

Finnian antwortete instinktiv. „Weil wir die Wahrheit erkennen müssen. Weil wir wissen wollen, wie alles begann – und wie es endet.“

Ihr tragt das Erbe der Zwölf, antwortete die Stimme. Doch das genügt nicht. Ich bin der Schatten, den ihr verleugnet habt. Die Wunden, die ihr verborgen habt. Ich bin der Teil, den ihr nicht sehen wolltet.

„Du bist nicht böse“, sagte Elara plötzlich. „Du bist... was fehlt.“

Ich bin das Ganze, antwortete die Stimme. Und nun müsst ihr euch mir stellen. Nicht im Kampf. Sondern in Erkenntnis.

Mit einem donnernden Schlag zersprang der Sockel, und aus dem dreizehnten Splitter schoss ein Lichtstrahl in den Himmel der Höhle. Der Raum um sie herum verzerrte sich – wurde zu einem Spiegelkabinett aus Erinnerungen, Träumen und Albträumen.

Finnian stand plötzlich wieder in seinem Heimatdorf. Doch es war nicht der Tag, an dem alles verloren ging. Es war früher – ein friedlicher Morgen. Sein Vater lebte noch, arbeitete auf dem Feld, rief ihm zu.

„Finnian! Hilf mir mit dem Pflug!“

Er wollte hingehen, antworten – doch etwas hielt ihn zurück. Eine Ahnung, dass dies nicht real war. Und dann sah er sich selbst: der Junge, der nie den Kristall gefunden hatte. Der nie aufgebrochen war. Der nie Elara, Gavrin oder Kaelan getroffen hatte.

„Das ist dein Leben ohne den Splitter“, erklang die Stimme in seinem Inneren. Ohne Verantwortung. Ohne Schmerz. Ohne Bedeutung.

Er schloss die Augen, ließ die Illusion verblassen. „Ich will nicht zurück. Ich will vorwärts. Auch wenn es schwer ist.“

In der nächsten Sekunde stand Elara auf einem Schlachtfeld. Blut und Asche wehten durch die Luft. Verletzte schrien. Sie kniete neben einem Mädchen, das ihr glich – nur jünger. Ihre Schwester.

„Du konntest sie nicht retten“, sprach die Stimme. Willst du dich wirklich erneut der Dunkelheit aussetzen, wenn du schon einmal gescheitert bist?

Elara ballte die Fäuste. „Gerade deshalb. Ich kämpfe, damit niemand mehr so enden muss.“

Gavrin sah sich selbst als Kind – allein, eingesperrt in einer unterirdischen Zelle, während über ihm Kämpfe tobten. Niemand kam. Niemand holte ihn. Nur sein Zorn wuchs.

„Du konntest fliehen, aber du hast nie vergeben“, flüsterte die Stimme. Dein Herz ist schwer – wie willst du das Licht tragen?

„Weil ich gelernt habe, dass Wut nicht schützt. Aber Freundschaft“, antwortete Gavrin und trat aus der Erinnerung ins Jetzt.

Kaelan fand sich zuletzt in einer dunklen Version der Höhle wieder – doch statt des dreizehnten Splitters sah er Lyra. Sie saß dort, weinend, umklammerte einen gebrochenen Kristall.

„Ich war wie sie“, sagte Kaelan leise. „Ich stand an dieser Schwelle. Und ich hatte Angst.“

Und du bist zurückgekehrt, antwortete die Stimme. Weil in dir noch etwas brannte. Ein Rest von Licht.

Die Welt stabilisierte sich. Die Spiegelungen zerfielen. Die vier Hüter standen wieder in der Halle, vor dem schwebenden, nun glühenden Splitter.

Die Stimme sprach ein letztes Mal:

Ihr habt euch gesehen – und nicht zurückgeschreckt. Ihr seid bereit, mich zu tragen. Doch das Licht allein wird euch nicht retten. Ihr müsst mich verstehen. Und mit mir leben.

Der Kristall senkte sich. Er teilte sich – in vier kleinere Fragmente, die in die Luft flogen und sanft in die Hände der Hüter sanken.

Finnian spürte, wie sich etwas veränderte. Nicht nur in ihm, sondern in allem. Eine neue Verbindung. Nicht nur zwischen den Hütern – sondern zwischen Licht und Schatten. Leben und Verlust. Hoffnung und Wahrheit.

Die Stimme war nun ganz still.

Doch in seinem Inneren wusste Finnian: Der wahre Feind war nicht Zerstörung.
Es war das Vergessen.
Und nun erinnerte sich die Welt.

Die Splitter hatten sich vervollständigt.

Doch in der Ferne, jenseits aller bekannten Länder, erwachte etwas.

Etwas, das die Dunkelheit nicht mehr nur nutzte – sondern sie war.
Etwas, das wusste: Die Hüter kommen.

Und sie würden nicht alleine sein.

Fortsetzung folgt...
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