Thaloria lag inzwischen ruhig hinter ihnen, verborgen im Nebel wie ein Traum, aus dem man nur ungern erwacht. Doch für Finnian, Elara, Gavrin und Kaelan war es kein Ort der Ruhe mehr, sondern der Aufbruch. Mit der Vision Serais im Herzen und einem neuen Ziel vor Augen zogen sie weiter – nach Süden, dorthin, wo die alten Karten nur ein Wort vermerkten: Nyrr’Vael – das vergessene Land.
Die Reise führte sie über raue Gebirgspfade, durch verlassene Täler und uralte Wälder, in denen selbst die Tiere verstummten, wenn sie vorbeizogen. Je weiter sie vordrangen, desto spürbarer wurde die Veränderung: Die Luft wurde schwerer, der Boden schien von etwas Altem durchdrungen, und nachts flackerten seltsame Lichter zwischen den Bäumen – Erinnerungen an längst vergangene Zeiten oder Warnungen vor dem, was kommen würde.
Am zehnten Tag ihrer Reise erreichten sie das Plateau von Nhal'Rhan – eine weite Fläche aus schwarzem Fels, von Rissen durchzogen, die in glühender Tiefe leuchteten. In ihrer Mitte thronte ein gewaltiger Baum, dessen Wurzeln in den Fels eingewachsen waren und dessen Krone von Kristallen durchzogen war – jeder Zweig ein anderer Splittertyp, jeder Kristall ein stummes Zeugnis der uralten Macht.
„Der Weltenbaum…“, flüsterte Kaelan. „Ich dachte, das wäre eine Legende.“
Finnian trat langsam näher. Seine Beine zitterten leicht, nicht vor Furcht, sondern vor Ehrfurcht. In diesem Baum schien alles zusammenzulaufen – die Vergangenheit, die Magie, die Seele der Welt. Und tief in seinem Inneren wusste er, dass Serai ihn genau hierher gewiesen hatte.
Berühre ihn, flüsterte seine Splitterseele. Lass ihn wissen, dass du bereit bist.
Finnian streckte die Hand aus und legte sie auf die Rinde, die kalt wie Stein und doch lebendig wie Haut war. In dem Moment schossen Bilder durch seinen Kopf – Erinnerungen, Gefühle, Stimmen aus einer Zeit, bevor die Splitter gebrochen wurden.
Er sah die Erschaffung des Ursplitters, geboren aus dem Herzlicht der Welt. Er sah die ersten Hüter, zwölf an der Zahl, wie sie die Macht zum Schutz und zur Heilung einsetzten. Und er sah den Moment, in dem ein dreizehnter Splitter entstand – geboren nicht aus Licht, sondern aus dem Schatten jener, die verstoßen wurden. Die Geburt der Dunkelheit.
„Es gibt noch einen“, hauchte Finnian, während seine Hand auf dem Baum ruhte. „Einen dreizehnten Splitter…“
Elara, die dicht hinter ihm stand, runzelte die Stirn. „Aber alle Legenden sprechen nur von zwölf. Zwölf Farben, zwölf Hüter.“
„Weil der dreizehnte nie gefunden werden sollte“, sagte Gavrin düster. „Er wurde vergraben, vergessen. Weil er keine Farbe trug – sondern alle Farben verschlang.“
Plötzlich erbebte der Boden. Der Baum begann zu leuchten, nicht grell, sondern tief von innen heraus – ein silbernes Licht, das langsam dunkler wurde. Aus dem Zentrum der Wurzeln öffnete sich ein Spalt, und eine Treppe aus purem Licht führte in die Tiefe.
„Der Pfad des Ursprungs…“, flüsterte Kaelan. „Er öffnet sich nur denen, die bereit sind.“
Finnian zögerte keine Sekunde. Mit einem letzten Blick zum Himmel trat er auf die erste Stufe. Elara folgte ihm, dicht gefolgt von Gavrin und Kaelan. Der Abstieg war lang, fast zeitlos. Je tiefer sie kamen, desto stiller wurde es – keine Gedanken, keine Stimmen, nur das Herzschlagen und das sanfte Summen der Splitter, die sie bei sich trugen.
Schließlich erreichten sie eine gewaltige Halle, vollkommen aus Kristall, in deren Mitte ein Tor stand – über dreißig Meter hoch, aus dunklem Obsidian, umwunden von metallenen Ranken, die sich wie Adern über die Wand zogen.
In der Luft hing eine bedrückende Kälte. Nicht physisch, sondern geistig. Die Art von Kälte, die Erinnerungen gefrieren lässt.
„Das ist das Siegel“, sagte Elara, ihr Blick ernst. „Dahinter liegt das, was Serai fürchtete.“
„Das Herz der Dunkelheit“, bestätigte Finnian. „Und der dreizehnte Splitter.“
Ein uralter Mechanismus begann sich zu drehen, als ihre Splitter auf das Tor reagierten. Rillen begannen zu leuchten, fremdartige Runen erschienen auf der Oberfläche. Die Splitter in ihren Händen pulsierten, als wollten sie sie warnen – oder vorbereiten.
Ihr könnt jetzt noch umkehren, flüsterte Finnians Kristall. Doch wenn ihr dieses Tor öffnet, wird nichts je wieder sein wie zuvor.
Finnian schloss die Augen. Bilder stiegen in ihm auf: Lyra, allein und gebrochen, wie sie verzweifelt in die Dunkelheit griff. Serai, stark und hoffnungsvoll, wie sie für eine bessere Zukunft kämpfte. Und er selbst, an der Schwelle von Licht und Schatten.
Er öffnete die Augen. „Wir gehen nicht zurück.“
Elara nickte. „Wir gehen zusammen.“
Kaelan trat näher. „Wenn wir versagen, endet alles. Aber wenn wir siegen… beginnt etwas Neues.“
Gavrin ballte die Faust. „Dann lasst uns dem Dunkel zeigen, dass das Licht nicht vergessen hat, wie man kämpft.“
Mit einem gemeinsamen Schritt traten sie näher ans Tor. Die Splitter verbanden sich – Licht, Erde, Heilung, Erinnerung – und lösten den Mechanismus aus.
Langsam, krachend, öffnete sich das Siegel.
Ein kalter Hauch entwich aus der Tiefe, und eine Stimme drang aus dem Inneren hervor – tief, uralt, und doch beunruhigend vertraut.
„Endlich“, flüsterte sie. „Endlich seid ihr bereit.“
Die Dunkelheit hatte sie erwartet. Und das nächste Kapitel ihres Schicksals begann – nicht als Suche, sondern als Prüfung.
Die Prüfung aller Welten.