Finnian lief, bis die ersten Strahlen der Morgendämmerung die Baumwipfel berührten und das dichte Blätterdach über ihm in goldenes, flackerndes Licht tauchten. Der Wald um ihn herum erwachte langsam zum Leben: Vögel sangen leise ihre ersten Lieder, und zwischen den Farnen glitzerten Tautropfen wie kleine Edelsteine. Finnian bemerkte die Schönheit jedoch kaum. Sein Herz hämmerte noch immer wild in seiner Brust, und in seinen Gedanken hallten die verzweifelten Schreie seiner Nachbarn nach.
In seiner Hand spürte er den Kristallsplitter, der sanft und rhythmisch pulsierte, fast so, als wollte er ihn beruhigen. Doch die Stimme war nun still. Finnian vermisste ihre Nähe, obwohl ihn die Tatsache, dass ein Kristall überhaupt sprechen konnte, eigentlich verunsichern sollte. Aber er hatte keine Zeit, über solche Dinge nachzudenken. Er musste weiter.
Schließlich blieb Finnian an einer Lichtung stehen und sank erschöpft auf einen moosbewachsenen Baumstumpf. Er zog den Splitter hervor, der im Morgenlicht zu glühen schien, als wäre in seinem Inneren ein Funke des Sonnenaufgangs eingefangen worden.
„Bitte, sprich wieder mit mir“, flüsterte Finnian erschöpft. „Was soll ich tun?“
Ein Moment lang geschah nichts, dann flackerte der Splitter sanft auf, und die vertraute Stimme erklang erneut, diesmal jedoch gedämpft, fast vorsichtig.
Verzeih, Finnian. Das Erwachen kostet Kraft. Doch bald werde ich stärker sein – und du ebenso.
„Ich brauche keine Stärke. Ich will nur, dass das alles vorbei ist“, erwiderte er mit zitternder Stimme und verbarg sein Gesicht in den Händen. „Meine Freunde, mein Vater... ich hätte nicht davonlaufen sollen.“
Du hast getan, was nötig war. Nur durch dein Überleben können wir sie retten. Wir sind nun verbunden, du und ich. Gemeinsam können wir der Dunkelheit widerstehen.
Finnian seufzte tief und blickte hilflos in die Ferne. „Was bist du wirklich?“
Der Kristall antwortete nach einer kurzen Pause, fast zögernd:
Ich war einst Teil eines größeren Ganzen – einer Seele, die von alten Magiern in Kristall gebunden wurde. Wir sollten ihre Macht erhalten, aber niemals selbst erwachen. Doch etwas hat mich geweckt. Du hast mich geweckt.
„Eine Seele?“, murmelte Finnian erstaunt. „Du meinst, du warst einmal lebendig?“
In gewisser Weise bin ich es noch. Doch es gibt noch andere Fragmente, und nicht alle sind rein. Manche wurden von Dunkelheit verdorben.
Finnian spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Und was wollen diese Männer von dir?“
Sie dienen einer alten Macht, die in Dunkelheit geboren wurde. Sie wollen alle Splitter, um unsere Macht für sich zu beansprieren. Doch das dürfen wir niemals zulassen.
„Und was genau liegt in diesen Ruinen – in Arklanor?“
Dort ist das Wissen verborgen, wie man mich – wie man uns – wieder vereinen kann. Nur dann können wir die Dunkelheit besiegen.
Ein Geräusch ließ Finnian abrupt aufschrecken. Zweige knackten in unmittelbarer Nähe, und hastig versteckte er den Kristall wieder in seiner Tasche. Er sprang auf und zog sich hinter einen dichten Strauch zurück. Sein Herz klopfte so laut, dass er fürchtete, es könne ihn verraten.
„Hörst du das?“, sagte eine tiefe Stimme, die Finnian kalten Schweiß auf die Stirn trieb. Zwei Gestalten tauchten zwischen den Bäumen auf, dunkle Mäntel über breiten Schultern, Kapuzen, die die Gesichter verbargen. „Die Spur endet hier.“
„Er muss irgendwo in der Nähe sein“, knurrte der andere. „Er hat etwas, das uns gehört.“
Finnian biss sich auf die Lippen, um keinen Laut von sich zu geben. Der Kristall in seiner Tasche pulsierte plötzlich so heftig, dass er Angst hatte, entdeckt zu werden.
Hab keine Furcht. Ich beschütze dich, flüsterte die Seele beruhigend, doch Finnian zweifelte stark daran, ob ein Kristall ihn tatsächlich schützen könnte.
Er schloss fest die Augen und hoffte, dass sie vorbeigehen würden. Doch in diesem Moment rief einer der Verfolger laut: „Hier sind Spuren!“
Finnian hielt den Atem an, während sich Schritte näherten. Die Männer waren nur wenige Meter entfernt, ihre Umrisse bedrohlich vor der aufgehenden Sonne. Einer zog einen langen, gebogenen Dolch, der unheilvoll im Licht glänzte.
Es gibt keinen anderen Weg. Du musst meine Kraft nutzen, drängte die Stimme jetzt energisch.
„Ich weiß nicht, wie!“, flüsterte Finnian verzweifelt zurück.
Vertraue mir!
Instinktiv packte er den Splitter fest mit beiden Händen. Die Wärme floss sofort in seine Arme, breitete sich blitzartig durch seinen Körper aus. Plötzlich schien die Welt langsamer zu werden, die Bewegungen der Verfolger verlangsamten sich, und in Finnian erwachte eine Kraft, die er nie zuvor gespürt hatte.
„Hier!“, brüllte einer der Männer und stürzte sich auf Finnian zu, doch dieser hob instinktiv die Hände, aus denen ein gleißendes Licht strahlte. Eine unsichtbare Welle fegte den Angreifer von den Füßen und schleuderte ihn gegen einen Baum, wo er regungslos zusammensackte. Der zweite Mann taumelte erschrocken zurück, bevor er sich eilig zurückzog und im Dickicht verschwand.
Finnian keuchte schwer, während die Kraft langsam wieder verebbte. Seine Hände zitterten, und seine Knie fühlten sich weich an. „Wie... habe ich das getan?“
Unsere Verbindung wächst. Bald wirst du diese Macht besser verstehen. Aber nun musst du weiter. Der Feind wird zurückkehren.
Finnian zögerte nicht länger. Mit neuer Entschlossenheit stand er auf, atmete tief durch und blickte Richtung Norden. Irgendwo dort lagen die vergessenen Ruinen von Arklanor, verborgen unter Jahrhunderten von Gestrüpp und Mythen. Doch es gab kein Zurück mehr.
„Also gut“, sagte Finnian fest, auch wenn seine Stimme noch bebte. „Gehen wir nach Arklanor.“
Der Kristall in seiner Hand pulsierte zustimmend, und Finnian setzte einen Fuß vor den anderen, während hinter ihm der Wald langsam wieder ruhiger wurde, als ob die Natur selbst den Atem anhielt und gespannt zusah, wie er in sein Schicksal trat.