Splitterseele

Kapitel 1: Erwachen im Kristall

Die Sonne stand tief über den Hügeln von Eldermoor und färbte die Felder und Wiesen in warmes, bernsteinfarbenes Licht. Die Luft war erfüllt vom Summen der Grillen und dem fernen Murmeln des nahen Baches. Finnian stieß den Pflug tiefer in die Erde, während seine nackten Füße den warmen, feuchten Boden erfühlten. Er liebte diese letzten Stunden des Tages, in denen der Himmel langsam von Gold zu Purpur wechselte und der Frieden des Dorfes nahezu greifbar war.

Finnian war erst fünfzehn Winter alt, aber die harte Arbeit auf dem Feld hatte seine Schultern bereits breit und seine Hände kräftig gemacht. Seine Augen, so tiefblau wie der Sommerhimmel, blickten wachsam umher, während er sich ein paar widerspenstige Locken aus dem Gesicht strich.

Plötzlich stieß der Pflug auf etwas Hartes, ließ ihn ins Stolpern geraten und riss ihn beinahe zu Boden. Er runzelte die Stirn und ging in die Hocke. Der Boden hier war normalerweise weich und leicht zu bearbeiten. Mit seinen Fingern grub er vorsichtig in der lockeren Erde, bis er auf etwas Glattes und Kühles stieß.

Sein Herz schlug schneller, als er das Objekt freilegte. Vor ihm lag ein schimmernder Kristallsplitter, kaum größer als seine Faust, dessen Farbe in einem unirdischen Blau-Violett schimmerte. In seinem Inneren wirbelte ein Muster aus filigranen Lichtfäden, das sich immer wieder veränderte, als wäre es lebendig.

Vorsichtig nahm Finnian das Fragment in seine Hände und sofort durchfuhr ihn ein warmes, angenehmes Kribbeln, das sich von seinen Fingerspitzen bis tief in seine Brust ausbreitete. Seine Gedanken wurden klarer, schärfer, und er spürte ein unbekanntes, sanftes Pulsieren in seinem Geist. Er wusste es instinktiv: Dies war kein gewöhnlicher Kristallsplitter.

„Finnian!“

Er schreckte hoch und sah seinen Vater Rodrik am Rande des Feldes stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. „Die Sonne sinkt! Hör auf zu träumen und komm heim!“

Finnian nickte hastig und ließ den Kristall in seiner Tasche verschwinden. Das seltsame Pulsieren blieb jedoch bestehen, ein stetiges Flüstern am Rande seines Bewusstseins. Als hätte der Kristall begonnen, ihn zu beobachten.

Der Weg nach Hause führte ihn durch das kleine Dorf Eldermoor, vorbei an Holzhütten mit reetgedeckten Dächern und Rauchschwaden, die gemächlich aus den Kaminen stiegen. Überall wurden Laternen entzündet, deren Licht tanzende Schatten auf die Fassaden der Häuser warf. Doch heute fühlte sich alles anders an, fremder irgendwie. Die Dunkelheit schien tiefer, die Geräusche klarer und lauter als je zuvor.

Er betrat die kleine Hütte, in der er mit seinem Vater lebte, und eilte an diesem vorbei in seine Kammer. Er legte den Splitter auf seinen kleinen Nachttisch, wo er im Schein der Kerze wie ein Juwel funkelte. Es schien ihm fast, als würde ihn der Kristall auffordernd betrachten.

„Was bist du?“, flüsterte Finnian, während er sich vorsichtig über den Splitter beugte.

Ich bin Leben, flüsterte eine Stimme, sanft und klar wie ein Bach, der über glatte Steine fließt.

Finnian sprang erschrocken zurück. „Wer spricht da?“

Hab keine Angst, erklang die Stimme erneut, diesmal ein wenig amüsiert. Ich bin, was du in Händen hältst. Ein Teil jener Macht, die euer Volk verloren glaubt.

Sein Herz klopfte wild gegen seine Brust. „Du bist ein… ein lebendiger Kristall?“

Ich bin viel mehr. Doch auch ich war lange vergessen. Bis du mich geweckt hast.

„Wieso gerade ich?“, fragte Finnian zweifelnd, während er näher an den Splitter herantrat.

Weil dein Herz rein ist. Aber hüte dich – andere werden kommen, jene, die das Licht fürchten und meine Kraft missbrauchen wollen. Du bist nun Hüter meines Geheimnisses.

Finnian schluckte schwer. „Ich bin nur ein einfacher Junge, kein Magier.“

Du wirst es sein müssen, erwiderte der Kristall sanft. Denn sie sind bereits auf dem Weg.

In diesem Moment ertönte draußen ein lautes Poltern, begleitet von panischen Schreien. Finnian griff instinktiv nach dem Kristall und rannte hinaus. Das Dorf lag plötzlich in grellem Feuerschein. Bewaffnete Gestalten in dunklen Mänteln ritten durch die Straßen, ihre Gesichter von Kapuzen verhüllt. Dunkle, magische Flammen loderten in ihren Händen.

„Wo ist es?“, dröhnte eine kalte Stimme, so finster, dass sie Finnian bis ins Mark erschütterte. „Gebt uns den Splitter, und wir verschonen euch vielleicht!“

Finnian spürte, wie der Kristall in seiner Hand pulsierte, diesmal drängend, aufgeregt.

Lauf! rief die Stimme in seinem Kopf.

Finnian gehorchte augenblicklich, rannte los in Richtung Wald, während hinter ihm Chaos und Zerstörung das Dorf verschlangen. Die Schreie seiner Nachbarn hallten ihm in den Ohren wider, doch er wagte nicht, stehenzubleiben.

Im Schutz der dichten Bäume verlangsamte er seinen Lauf und presste sich zitternd hinter einen großen Stamm. Der Kristall pulsierte stärker und beruhigend zugleich.

„Ich kann nicht davonlaufen. Ich muss ihnen helfen“, hauchte Finnian verzweifelt.

Du kannst ihnen nur helfen, indem du mich beschützt, flüsterte der Splitter entschlossen. Wir müssen zu den Ruinen von Arklanor. Dort liegt der Schlüssel zu allem.

Finnian nickte schwach, tief atmend, während Tränen über seine Wangen liefen. Der Kristall war warm und tröstend in seiner Hand, doch die Last der Verantwortung drückte schwer auf sein Herz.

„Dann führe mich“, sagte er schließlich entschlossen, während er in die dunkle, unbekannte Wildnis blickte, die sich vor ihm erstreckte. „Ich werde dein Hüter sein.“

Die Nacht umfing ihn wie ein Mantel aus Schatten, während er seinen ersten Schritt in die unbekannte Zukunft setzte. Finnian ahnte noch nicht, dass sein Schicksal eng verwoben war mit dem Bewusstsein jenes uralten Splitters – einer Macht, die alles verändern konnte.

Fortsetzung folgt...
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