Splitterseele

Kapitel 5: Sturm über Varyth

Die schwebenden Inseln von Varyth waren ein Ort, den Finnian nur aus den Legenden seiner Kindheit kannte. Doch als er nun vor ihnen stand, wusste er, dass keine Erzählung dieser Pracht gerecht werden konnte. Riesige Felsinseln schwebten wie sanfte Giganten über einer endlosen Wolkendecke, verbunden durch uralte Brücken aus geschliffenem Kristall, deren Oberfläche im Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens schimmerte.

Finnian, Elara und Gavrin hatten sich nach einer anstrengenden Reise endlich bis zum Fuße der Hauptinsel durchgeschlagen, doch jetzt lagen noch die schwindelerregenden Kristallbrücken vor ihnen, welche die Inseln miteinander verbanden.

„Das ist unglaublich“, hauchte Elara ehrfürchtig und blickte staunend nach oben. „Ich hätte nie gedacht, dass es wirklich existiert.“

„Es existiert“, erwiderte Gavrin trocken, „aber das macht es nicht weniger gefährlich. Diese Brücken wurden seit Jahrhunderten nicht mehr gepflegt.“

„Aber wir haben keine andere Wahl“, sagte Finnian entschlossen. „Die Älteste erwartet uns.“

Sie wird uns helfen, unsere Bestimmung zu verstehen, ergänzte seine Kristallseele sanft.

Finnian spürte das vertraute Pulsieren und schöpfte daraus neue Zuversicht. „Gehen wir“, sagte er entschieden, und setzte vorsichtig einen Fuß auf die glitzernde Oberfläche der ersten Brücke.

Die Kristalle unter seinen Füßen begannen sofort sanft zu glühen, ein Signal, das seinen beiden Begleitern ein beruhigtes Aufatmen entlockte. Gemeinsam überquerten sie die schmale Verbindung, unter ihnen nichts als tiefste Leere und Wolken, die wie ein endloser Ozean in der Tiefe wogten.

Nach einer halben Stunde des vorsichtigen Kletterns und Balancierens erreichten sie endlich die Hauptinsel. Vor ihnen öffnete sich eine wundersame, fast unwirkliche Landschaft: üppige Wiesen, Wälder aus kristallinen Bäumen, und in der Mitte der Insel ragte ein großer, weißer Tempel empor, dessen elegante Türme und Säulen den Himmel berührten.

„Der Tempel der Ältesten“, flüsterte Elara ehrfürchtig.

Die Gefährten setzten ihren Weg zum Eingang fort. Doch als sie gerade den Vorhof betraten, wurden sie plötzlich von einem lauten Krachen aufgeschreckt. Finnian wirbelte herum, gerade noch rechtzeitig, um eine Gruppe dunkler Gestalten zu sehen, die von einer benachbarten Insel über die Kristallbrücke stürmten – angeführt von Lyra.

„Schnell! In den Tempel!“, rief Gavrin und schob Finnian und Elara hastig durch das Tor, bevor er selbst hinein folgte und die schweren Kristalltore hinter sich zuzog.

Im Inneren des Tempels umfing sie sofort eine beruhigende, friedvolle Atmosphäre. Hunderte filigraner Kristalllaternen tauchten die Säulenhalle in ein sanftes Licht, und am Ende des langen Gangs stand eine Gestalt, eingehüllt in weiße Gewänder, mit schneeweißem Haar, das ihr bis zu den Knöcheln reichte.

„Ich habe euch erwartet“, erklang ihre Stimme klar und weich zugleich, voller Weisheit und Wärme.

„Ihr seid die Älteste?“, fragte Finnian ehrfürchtig.

„Nennt mich Avalea“, sagte sie und lächelte freundlich. „Ich kenne eure Namen und eure Last. Doch die Zeit drängt, denn Dunkelheit steht bereits vor unseren Toren.“

Finnian blickte zurück zur Tür, hinter der bereits dumpfes Hämmern zu hören war. „Was sollen wir tun?“

Avalea trat ruhig näher. „Ihr seid Hüter der Splitter, und nur gemeinsam könnt ihr die Dunkelheit zurückdrängen. Aber zuerst müsst ihr lernen, eure Splitter als Einheit zu nutzen.“

„Wie sollen wir das schaffen?“, fragte Elara besorgt. „Wir kennen kaum ihre Kräfte!“

Avalea lächelte wissend. „Eure Kräfte sind bereits miteinander verbunden. Vertraut einander, und lasst die Magie eurer Splitter sich verbinden.“

Die Türen erzitterten unter einem heftigen Stoß. Finnian tauschte Blicke mit Elara und Gavrin, sah ihre Entschlossenheit und Vertrauen. Gemeinsam traten sie vor Avalea und zogen gleichzeitig ihre Splitter hervor.

Smaragdgrünes Licht strahlte von Elaras Splitter aus, Gavrins Fragment leuchtete erdfarben und fest, während Finnians Kristall in Blauviolett pulsierte. Avalea hob die Hände und flüsterte Worte in einer alten Sprache, woraufhin sich die drei Splitter zueinander hinzogen, bis sich ihre Kräfte zu einem mächtigen Strom aus Licht verbanden, der den ganzen Tempel erfüllte.

Finnian spürte die ungeheure Macht, die nun in ihren Händen lag, und zum ersten Mal fühlte er sich nicht mehr hilflos. Doch in genau diesem Moment barsten die Türen des Tempels mit einem lauten Krachen. Lyra stand in der Öffnung, ihr Gesicht von einem finsteren Lächeln gezeichnet, begleitet von dunklen Kämpfern, deren Kristalle in blutigem Rot glühten.

„Wie niedlich“, spottete Lyra kalt. „Aber eure kleine Lichtshow wird euch nicht retten.“

Finnian hielt ihren Blick entschlossen stand. „Es ist mehr als das.“

„Dann beenden wir es hier“, knurrte sie und stürzte sich mit ihren Anhängern auf die Gruppe.

Doch diesmal waren Finnian und seine Freunde vorbereitet. Gemeinsam ließen sie die gebündelte Macht ihrer Splitter frei, und ein blendender Lichtsturm wirbelte auf, der die Angreifer sofort zurückwarf. Lyra schrie wütend auf, während ihre Verbündeten von der Wucht der Magie davongeschleudert wurden.

„Wir lassen nicht zu, dass du die Splitter missbrauchst!“, rief Elara, deren Stimme plötzlich voller Selbstvertrauen klang.

Lyra richtete sich langsam wieder auf, ihr Gesicht verzerrt vor Wut und Frustration. „Ihr könnt mich nicht ewig aufhalten“, zischte sie hasserfüllt. „Das nächste Mal werdet ihr nicht so viel Glück haben.“

Mit einer wütenden Geste verschwand Lyra in einer Wolke aus dunklem Rauch, gefolgt von den letzten ihrer Kämpfer. Stille kehrte erneut in den Tempel zurück.

Finnian sank erschöpft zu Boden, während Elara und Gavrin sich erleichtert anlächelten. Avalea trat langsam zu ihnen, Stolz und Hoffnung in ihren Augen.

„Ihr habt bewiesen, dass ihr zusammen stark seid“, sagte sie anerkennend. „Doch Lyras Drohung war ernst gemeint. Von nun an müsst ihr schneller sein als sie.“

„Aber wie finden wir die übrigen Splitter?“, fragte Finnian besorgt.

Avalea berührte sanft seine Schulter. „Ihr habt nun gelernt, eurer Verbindung zu vertrauen. Folgt den Splittern, denn sie kennen den Weg.“

Finnian atmete tief durch, erhob sich und spürte erneut die beruhigende Präsenz seiner Splitterseele.

Unser Schicksal liegt nun klar vor uns, flüsterte die Seele. Zusammen können wir die Dunkelheit besiegen.

Finnian blickte fest zu seinen Gefährten und dann zur Ältesten. „Dann ist es Zeit, aufzubrechen.“

Avalea nickte ruhig. „Geht mit dem Licht.“

Und so verließen Finnian, Elara und Gavrin den Tempel, diesmal nicht als Flüchtende, sondern als Hüter der Splitter, entschlossen, den Kampf aufzunehmen – nicht nur um ihre Welt zu retten, sondern auch, um endlich ihrem Schicksal entgegenzutreten.

Fortsetzung folgt...
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