Tief in den Schattenbergen lag eine Höhle, die kaum ein Mensch je betreten hatte. Doch genau dorthin führte der Weg, den die Splitter den drei Gefährten wiesen. Finnian, Elara und Gavrin waren bereits seit mehreren Tagen unterwegs, doch die Erinnerung an die Begegnung mit Lyra auf den Inseln von Varyth ließ sie nicht los.
Der Eingang zur Höhle war kaum sichtbar, verborgen hinter dichtem Efeu und wild wuchernden Ranken. Finnian fühlte, wie sein Splitter stärker pulsierte, als je zuvor, beinahe drängend, und doch war etwas anders – etwas, das ihn beunruhigte.
„Bist du sicher, dass wir richtig sind?“, fragte Gavrin skeptisch und musterte die dunkle Öffnung misstrauisch.
„Die Splitter führen uns hierher“, antwortete Finnian entschieden, obwohl er selbst Zweifel spürte. „Was immer hier wartet, wir müssen es finden.“
Elara nickte ruhig, streckte ihre Hand aus, und ein weiches, grünes Leuchten erhellte die Höhle. Vorsichtig traten sie ins Innere, wo sie sofort von kühler, modriger Luft empfangen wurden. Die Wände glänzten feucht, und die Dunkelheit schien schwer auf ihnen zu lasten.
Je tiefer sie vordrangen, desto deutlicher spürte Finnian, dass etwas in der Höhle wartete – etwas Mächtiges, vielleicht Gefährliches, und doch vertraut. Plötzlich weitete sich der schmale Gang zu einer riesigen Halle, in deren Mitte ein See von tiefschwarzem Wasser lag, ruhig und spiegelglatt wie eine Glasplatte.
Am Ufer des Sees saß eine einsame Gestalt, zusammengekauert, als würde sie frieren.
„Wer bist du?“, fragte Finnian behutsam und trat vorsichtig näher.
Die Gestalt hob langsam den Kopf, und Finnian stockte der Atem. Vor ihm saß ein Junge, kaum älter als er selbst, mit blassem Gesicht und leer wirkenden, tieftraurigen Augen. In seiner Hand hielt er einen Kristallsplitter – doch dieser war schwarz, trüb und pulsierte schwach mit einem dunklen Licht.
„Mein Name war einst Kaelan“, sagte der Junge mit gebrochener Stimme. „Doch nun bin ich kaum mehr als ein Schatten.“
Finnian trat näher, sein Herz schwer vor Mitleid. „Was ist mit dir geschehen?“
„Ich war wie ihr“, flüsterte Kaelan. „Ein Hüter eines Splitters. Doch mein Splitter wurde verdorben, und nun ist seine Dunkelheit auch die meine.“
Gavrin und Elara tauschten besorgte Blicke. „Verdorben?“, fragte Elara vorsichtig. „Durch Lyra?“
Kaelan nickte schwach. „Sie wollte, dass ich ihr diene. Doch ich weigerte mich. Als Strafe nahm sie meiner Seele das Licht und ließ mir nur die Finsternis zurück.“
Finnian spürte, wie sein eigener Splitter auf einmal unruhig vibrierte.
Er braucht unsere Hilfe, flüsterte seine Seele eindringlich.
„Gibt es einen Weg, dich zu retten?“, fragte Finnian entschlossen.
Kaelan blickte auf seinen schwarzen Splitter. „Ich weiß es nicht. Die Dunkelheit ist mächtig.“
„Aber das Licht in uns ist stärker“, erwiderte Elara zuversichtlich. „Wir können es gemeinsam versuchen.“
Kaelan sah sie hoffnungslos an, doch Finnian trat neben ihn und legte vorsichtig seine Hand auf dessen Schulter. „Du bist nicht allein.“
Kaelan schloss die Augen, und eine einzelne Träne rann seine Wange hinunter. „Ihr seid die Ersten seit langer Zeit, die mir nicht mit Furcht begegnen.“
Finnian wandte sich entschlossen zu Gavrin und Elara. „Wir müssen unsere Splitter einsetzen. Vielleicht können wir seine Seele vom Einfluss der Dunkelheit befreien.“
Die drei Gefährten nickten einander zu und zogen ihre Kristalle hervor. Erneut verbanden sich die Lichtstrahlen, diesmal jedoch fokussiert auf den schwarzen Splitter in Kaelans Händen. Sofort reagierte die Dunkelheit aggressiv, bäumte sich auf, wehrte sich mit kalten, schneidenden Schatten, doch die drei ließen nicht locker. Das Licht pulsierte immer stärker, umgab Kaelan, drang tief in seine Seele ein.
„Halte durch!“, rief Finnian ihm zu.
Kaelan begann zu zittern, seine Augen weit geöffnet, die Dunkelheit in ihnen kämpfte verzweifelt gegen das eindringende Licht. Doch allmählich verlor sie an Kraft. Der schwarze Splitter begann heller zu werden, wurde grau, dann langsam wieder klar, bis schließlich ein silbernes Leuchten ihn vollständig erfüllte.
Mit einem letzten Aufschrei verließ ein schwarzer Schatten Kaelans Körper und verschwand in der Dunkelheit der Höhle.
Erschöpft sank Kaelan in sich zusammen. Als er erneut aufblickte, waren seine Augen klar, und in ihnen lag wieder Leben. „Ihr habt es geschafft“, flüsterte er ungläubig. „Ihr habt mich gerettet.“
Finnian lächelte erleichtert. „Das haben wir zusammen geschafft.“
Elara trat vor und half Kaelan vorsichtig auf die Beine. „Du bist jetzt einer von uns. Deine Seele ist nicht verloren, Kaelan. Komm mit uns.“
Kaelan nickte langsam, Tränen der Dankbarkeit in seinen Augen. „Ich werde an eurer Seite stehen und kämpfen, solange ich atme.“
Gavrin nickte ihm anerkennend zu, und Finnian fühlte, wie die Verbindung zu seinem eigenen Splitter stärker und sicherer wurde. Sie hatten heute nicht nur einen Gefährten gewonnen, sondern auch ein Zeichen gesetzt: Niemand war hoffnungslos verloren, solange es Menschen gab, die bereit waren, gegen die Dunkelheit anzutreten.
Gemeinsam verließen die vier Hüter die Höhle, zurück ins Tageslicht, das sich warm und hell über ihre Gesichter ergoss. Kaelan blickte zum Himmel, als würde er ihn das erste Mal sehen.
„Wohin führt unser Weg jetzt?“, fragte er schließlich, leise, aber entschlossen.
„Nach Westen“, antwortete Finnian und blickte in die Ferne, dorthin, wo dunkle Wolken aufzogen. „Lyra erwartet uns dort, und wir werden nicht zulassen, dass sie weitere Seelen verdunkelt.“
Kaelan nickte ernst. „Dann lasst uns gehen.“
So machten sie sich erneut auf den Weg – vereint durch Mut, Hoffnung und das Licht, das nun stärker in ihnen brannte als je zuvor. Doch in ihrem Innersten wussten sie, dass die wahre Herausforderung noch bevorstand. Denn während sie die Höhle verließen, öffnete Lyra, weit entfernt, langsam ihre Augen – und lächelte kalt in die Finsternis.