Splitterseele

Kapitel 7: Die verborgene Stadt

Finnian, Elara, Gavrin und Kaelan waren bereits mehrere Wochen unterwegs, seit sie die Höhle in den Schattenbergen verlassen hatten. Die Welt schien dunkler geworden zu sein, je näher sie den westlichen Ebenen kamen, wo Lyra ihre finsteren Pläne schmiedete. Doch trotz aller Bedrohung fühlten sich die vier Gefährten stärker denn je, geeint durch ihre gemeinsamen Erlebnisse und die tiefen Bande ihrer verbundenen Splitter.

Ihre Reise führte sie durch endlose Wälder, zerklüftete Gebirge und weite, verlassene Steppen. Schließlich, an einem stürmischen Abend, als dunkle Wolken drohend über den Horizont krochen, entdeckten sie die Umrisse einer gewaltigen Stadt, die auf keiner Karte verzeichnet war.

Sie lag versteckt in einem breiten, tiefen Tal, umgeben von einer dichten Nebelwand, die sich wie ein lebendiger Schleier über Dächer und Mauern legte. Selbst aus der Entfernung konnten sie spüren, dass diese Stadt etwas verbarg – etwas, das vielleicht den Schlüssel zu ihrem endgültigen Sieg enthielt.

„Was ist das für ein Ort?“, fragte Elara, deren Stimme ein wenig zitterte.

Gavrin musterte die seltsamen Bauwerke aufmerksam. „Die Stadt aus Nebel und Stein – ich habe von ihr gehört. Man sagt, sie existiere nur in alten Legenden.“

Kaelan blickte zweifelnd in den Nebel. „Sie wirkt nicht sehr einladend.“

Finnian hingegen fühlte, wie sein Splitter in der Nähe der Stadt stärker pulsierte, fast als würde ihn etwas magisch anziehen. „Wir müssen hinein“, sagte er bestimmt. „Dort wartet etwas auf uns.“

Die Gefährten tauschten entschlossene Blicke aus und begannen, langsam in das Tal hinabzusteigen. Der Nebel wurde dichter und dichter, bis er sie vollständig einhüllte. Nur das sanfte Leuchten ihrer Splitter spendete ihnen genug Licht, um den Weg nicht zu verlieren.

Schließlich erreichten sie das Stadttor. Riesige Steinfiguren bewachten den Eingang, ihre leeren Augen wirkten fast lebendig, so als würden sie jeden Schritt der Eindringlinge verfolgen. Finnian atmete tief durch und trat mutig vor.

In diesem Moment ertönte eine tiefe, donnernde Stimme, die wie ein Echo aus den Tiefen der Erde zu kommen schien. „Nur jene, die das Licht im Herzen tragen, dürfen eintreten. Sprecht – was sucht ihr hier?“

Finnian blickte zu seinen Freunden und antwortete klar und deutlich: „Wir suchen den Weg, die Dunkelheit zu besiegen, und um jene zu retten, deren Seelen bedroht sind.“

Einen Moment herrschte Stille, dann bewegten sich die steinernen Wächter langsam zur Seite, und das mächtige Tor öffnete sich knarrend.

„Euer Herz spricht wahr“, dröhnte die Stimme sanfter. „Willkommen in Thaloria, der verborgenen Stadt.“

Sie traten ein und fanden sich plötzlich auf belebten Straßen wieder. Trotz des dichten Nebels waren hier zahlreiche Menschen unterwegs, eingehüllt in farbenfrohe Gewänder, ihr Gesichtsausdruck ruhig und freundlich. Magische Laternen spendeten warmes Licht, das den Nebel sanft erhellte und der Stadt etwas Träumerisches verlieh.

Ein alter Mann näherte sich ihnen, sein Haar schlohweiß, seine Haltung würdevoll und aufrecht. „Ich bin Meister Liron“, sagte er freundlich. „Hüter von Thaloria. Ihr seid die Splitterträger, nicht wahr?“

Finnian nickte. „Ihr kennt uns?“

„Oh ja“, lächelte Meister Liron geheimnisvoll. „Seit Jahrhunderten warten wir auf eure Ankunft. Kommt, ich zeige euch etwas.“

Er führte sie durch die gewundenen Gassen, bis sie einen großen, prachtvollen Tempel erreichten, dessen hohe Kuppel im Nebel verschwamm. Drinnen öffnete sich ein kreisrunder Raum, dessen Wände mit Kristallreliefs verziert waren, welche Szenen der Vergangenheit darstellten.

In der Mitte des Raumes befand sich ein großer, kristalliner Altar, in dem ein riesiger Splitter ruhte – klar und strahlend, von einer unbeschreiblichen Schönheit.

„Dies ist der Splitter des Ursprungs“, sagte Liron ehrfürchtig. „Das Herz aller Splitter.“

Finnian trat näher, fasziniert von der Kraft, die von dem Kristall ausging. „Wie kann uns dieser Splitter helfen?“

„Er verbindet alle anderen Splitter miteinander“, erklärte Liron. „Wenn Lyra diesen Splitter findet, könnte sie alle anderen kontrollieren und unbesiegbar werden.“

„Wir müssen ihn schützen“, sagte Gavrin sofort.

„Ja“, bestätigte Liron ernst. „Aber nur ihr könnt ihn führen – seine Macht kontrollieren.“

Finnian streckte vorsichtig die Hand aus, und sobald er den Ursplitter berührte, durchflutete ihn eine gewaltige Energie. Vor seinem inneren Auge erschienen Visionen der Zukunft: Schlachten, dunkle Schatten, aber auch Hoffnung – und schließlich eine Begegnung, unausweichlich und entscheidend.

Plötzlich erschütterte eine heftige Explosion die Stadt. Panische Schreie erklangen, und draußen begann das Chaos.

„Sie ist hier“, sagte Finnian entsetzt und löste sich vom Ursplitter.

„Lyra“, bestätigte Kaelan düster. „Sie hat uns gefunden.“

„Dann ist es Zeit“, sagte Meister Liron ernst. „Ihr müsst kämpfen. Nicht nur für Thaloria, sondern für das Schicksal aller.“

Finnian wandte sich entschlossen zu seinen Freunden um. „Wir stellen uns ihr gemeinsam entgegen.“

Draußen auf den Straßen brannte es bereits an mehreren Stellen. Dunkle Gestalten griffen die friedlichen Bewohner an, und mitten im Chaos stand Lyra, ihr Gesicht von düsterer Freude erfüllt.

„Endlich sehen wir uns wieder!“, rief sie Finnian spöttisch zu. „Bereit, dein Schicksal zu erfüllen?“

Finnian atmete tief durch und spürte die Kraft der Splitter, die nun intensiver denn je in ihm pulsierte. „Ja“, antwortete er ruhig. „Aber nicht so, wie du es erwartest.“

Mit seinen Freunden an seiner Seite und dem Wissen, dass der entscheidende Kampf nun unmittelbar bevorstand, trat Finnian Lyra und ihrer Dunkelheit entschlossen entgegen – im Herzen bereit, alles zu geben, um das Licht zu beschützen.

Fortsetzung folgt...
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