Splitterseele

Kapitel 4: Gefährten im Zwielicht

Finnian verließ Arklanor, während die Sonne bereits tief im Westen stand und lange Schatten über die zerfallenen Mauern warf. Der Herzsplitter ruhte nun sicher in seiner Tasche, doch seine Gedanken wirbelten noch immer chaotisch durcheinander. Lyras Drohung hallte in ihm nach, und das Wissen um die große Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern. Doch die Verbindung zu der Seele, die in seinem eigenen Splitter lebte, gab ihm Trost und Zuversicht.

Die ersten Sterne begannen bereits am Himmel zu funkeln, als Finnian plötzlich aufschreckte. Vor ihm auf dem Weg standen zwei Gestalten, verborgen unter dunkelgrünen Umhängen, ihre Gesichter im Halbdunkel kaum zu erkennen. Sein Herz setzte für einen Moment aus, und instinktiv griff er nach dem Splitter in seiner Tasche.

„Warte“, sagte eine der Gestalten mit ruhiger, aber fester Stimme. „Wir sind nicht deine Feinde.“

„Wer seid ihr dann?“, fragte Finnian misstrauisch, bereit, sofort zu reagieren, falls nötig.

Die kleinere Gestalt trat vorsichtig näher und schlug die Kapuze zurück, wodurch langes, goldbraunes Haar sichtbar wurde. Es war ein Mädchen, kaum älter als er, mit wachen, grünen Augen und einem vorsichtigen Lächeln auf den Lippen.

„Mein Name ist Elara“, sagte sie sanft, aber bestimmt. „Und das hier ist Gavrin.“ Die größere Gestalt trat ebenfalls vor und enthüllte das kantige Gesicht eines jungen Mannes mit dunklen Augen, die Finnian durchdringend musterten.

„Wir sind wie du“, fuhr Elara fort. „Wir tragen Splitter. Wir wurden geschickt, um dich zu finden.“

Finnian ließ überrascht die Hand sinken. „Es gibt noch andere?“

Elara nickte ernst. „Ja, doch nicht alle dienen dem Licht. Deshalb müssen wir zusammenhalten.“

Gavrin brummte zustimmend. „Wenn Lyra dich bereits gefunden hat, bedeutet das, dass die Dunkelheit stärker wird.“

„Ihr kennt Lyra?“, fragte Finnian überrascht.

„Leider“, erwiderte Gavrin düster. „Sie war einst eine von uns – doch sie entschied sich für den Pfad der Finsternis. Seitdem jagt sie die Splitter, um ihre Macht für dunkle Zwecke zu missbrauchen.“

Elara trat einen Schritt näher, ihre Stimme voller Mitgefühl. „Wir haben gesehen, was sie deinem Dorf angetan haben. Es tut uns leid.“

Finnian spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte, doch er nickte tapfer. „Ich will verhindern, dass so etwas wieder geschieht.“

„Und deshalb müssen wir zusammenhalten“, sagte Elara entschlossen. „Unsere Splitter ergänzen sich – gemeinsam sind wir stärker.“

Finnian betrachtete die beiden Gefährten einen Moment lang schweigend. Obwohl sie sich gerade erst getroffen hatten, spürte er eine seltsame, tiefe Verbundenheit zu ihnen, als würden ihre Schicksale miteinander verwoben sein.

Sie sagen die Wahrheit, bestätigte seine Kristallseele beruhigend. Ihre Splitter sind rein. Wir können ihnen vertrauen.

„Dann werden wir zusammen reisen“, sagte Finnian schließlich entschieden. „Aber wohin? Wo finden wir die restlichen Splitter?“

„Nach Norden“, antwortete Gavrin ernst. „Zu den schwebenden Inseln von Varyth. Dort lebt die Älteste der Hüter. Nur sie kann uns sagen, wie wir die Splitter wieder vereinen können.“

„Aber der Weg ist gefährlich“, ergänzte Elara ernst. „Lyra und ihre Verbündeten werden alles versuchen, um uns aufzuhalten.“

Finnian spürte, wie sich erneut Entschlossenheit in ihm regte. „Dann stellen wir uns ihnen gemeinsam entgegen.“

Ein schwaches, stolzes Lächeln zeichnete sich auf Gavrins sonst ernstem Gesicht ab. „Mutig gesprochen.“

In den darauffolgenden Tagen reisten die drei Gefährten über weitläufige Ebenen und durch tiefe Wälder, stets darauf bedacht, möglichst unauffällig zu bleiben. Während dieser Reise lernte Finnian seine neuen Begleiter besser kennen. Elara war von ruhiger Art, doch hinter ihrer freundlichen Zurückhaltung verbarg sich eine tiefe Weisheit. Ihr Splitter war von einem sanften Smaragdgrün, der Pflanzen wachsen und heilen ließ. Gavrin dagegen war verschlossen und wortkarg, aber loyal bis ins Mark. Sein Splitter besaß die Kraft des Erd- und Steingesteins, die Erde selbst zu formen und zu lenken.

Eines Nachts, als sie an einem knisternden Lagerfeuer saßen und der Mond voll am Himmel stand, wandte sich Elara nachdenklich an Finnian. „Hörst du die Stimme deines Splitters eigentlich oft?“

„Ja“, antwortete Finnian offen. „Es ist, als wäre da jemand, der meine Gedanken kennt und mir Kraft gibt.“

Elara lächelte leicht. „Meiner ist anders. Ich fühle seine Gegenwart, aber sprechen tut er selten. Nur, wenn ich wirklich verzweifelt bin.“

„Meiner spricht gar nicht“, warf Gavrin trocken ein, während er einen Ast ins Feuer warf. „Er fühlt sich an wie ein stiller, unerschütterlicher Freund.“

Finnian blickte neugierig in die Flammen. „Wie viele von uns gibt es noch?“

„Nicht viele“, sagte Elara traurig. „Aber es sind genug, um die Splitter zu vereinen – wenn wir schnell sind und die Dunkelheit uns nicht zuvor kommt.“

Finnian blickte zum Himmel hinauf, wo tausende Sterne glühten. Er fühlte sich klein und verletzlich, und doch stärker und entschlossener denn je. Er wusste, dass er niemals wieder in sein altes Leben zurückkehren würde – doch er wollte auch nicht mehr dorthin zurück.

Du bist bereit für das, was kommt, sagte der Kristall leise in seinem Geist. Du bist nicht mehr allein.

Finnian lächelte innerlich und wandte sich wieder an seine neuen Gefährten. „Wir schaffen es“, sagte er überzeugt. „Zusammen.“

Gavrin nickte knapp, Elara strahlte ihn warm an, und für einen kurzen Moment schien es, als wären die Schatten um sie herum weniger bedrohlich, als könnte keine Dunkelheit diese neue Freundschaft durchdringen.

Sie ahnten jedoch nicht, dass tief in der Nacht, verborgen im Schatten der Wälder, ein Paar kalter Augen sie aus sicherer Entfernung beobachtete. Lyra, verborgen hinter dichtem Gebüsch, lächelte eisig, während der blutrote Kristall ihres Stabes im Mondlicht funkelte.

„Genießt die Hoffnung, solange ihr könnt“, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein. „Denn schon bald werde ich euch alles nehmen.“

Dann verschwand sie lautlos in den Schatten, während Finnian, Elara und Gavrin noch am Feuer saßen, in ihren Herzen nichtsahnend von der Gefahr, die sich unaufhaltsam näherte.

Fortsetzung folgt...
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