Splitterseele

Kapitel 3: Die Ruinen von Arklanor

Nach drei langen Tagen und Nächten, während denen Finnian kaum Ruhe fand, erreichte er endlich die ersten Ausläufer der verlorenen Stadt Arklanor. Dichte, wild wuchernde Pflanzen hatten die Überreste der antiken Bauwerke längst zurückerobert, und moosbewachsene Steine ragten wie schweigende Wächter aus dem Nebel hervor. Die Luft war hier anders, dichter und schwerer, erfüllt von etwas Altem und Geheimnisvollem.

Finnian betrat vorsichtig das überwucherte Gelände. Er spürte das Pulsieren des Kristalls, stärker als je zuvor, so stark, dass seine Finger prickelten. Arklanor war einst eine mächtige Stadt gewesen, von mächtigen Magiern erbaut, bevor sie in den großen Kristallkriegen vor Jahrhunderten zerstört wurde. Doch nun lagen nur noch Schatten und Erinnerungen an die alte Pracht verborgen unter Blättern und Erde.

„Wo genau finde ich das, wonach wir suchen?“, flüsterte Finnian dem Splitter zu.

In der Mitte der Stadt steht der Turm der Erinnerung. Dort liegt das Wissen, das wir benötigen. Aber sei vorsichtig. Hier sind Erinnerungen nicht das Einzige, was verborgen ruht.

Finnian nickte angespannt und begann, sich tiefer ins Herz der Ruinen zu wagen. Überall lagen zerbrochene Säulen und Mauern, auf denen seltsame Runen eingraviert waren. Die Zeichen schienen leicht zu glühen, wenn er an ihnen vorbeiging, fast so, als würden sie spüren, dass er nicht allein war.

Plötzlich blieb Finnian stehen. Vor ihm ragte ein mächtiger Turm auf, halb eingestürzt und doch erstaunlich gut erhalten. Efeu und Dornen rankten sich über seine Fassade, während die Eingangstür weit offen stand – eine dunkle Einladung, die ihm den Atem stocken ließ.

„Ist es das?“, fragte er zögernd.

Ja, bestätigte der Kristall. Der Turm der Erinnerung.

Finnian schluckte hart und trat entschlossen über die Schwelle. Sofort umfing ihn absolute Stille, als wäre er aus der Welt gefallen. Der Raum vor ihm war rund, mit hohen Wänden, an denen verblichene Gemälde Szenen aus längst vergangenen Tagen zeigten: Magier in prächtigen Gewändern, zeremonielle Tänze und die Veredelung riesiger Kristalle, die einst die Magie dieser Welt speisten.

In der Mitte des Raumes stand ein einzelnes Podest, auf dem ein weiterer, größerer Kristall ruhte – farblos, trüb und leblos.

Finnian trat vorsichtig näher. „Was ist das?“

Der Herzsplitter, antwortete seine Begleiterseele ehrfürchtig. Der Kern, aus dem wir alle hervorgingen. Er wartet auf die Wiedervereinigung.

Finnian streckte die Hand nach dem leblosen Kristall aus, doch bevor er ihn berühren konnte, erklang eine kalte, spöttische Stimme aus dem Schatten.

„Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig, Junge.“

Finnian wirbelte erschrocken herum. In der Tür stand eine hochgewachsene Frau, gekleidet in schwarze Roben, ihr langes Haar wie flüssige Dunkelheit über die Schultern fallend. Ihre Augen funkelten eisblau, und in ihrer Hand hielt sie einen schmalen, gefährlich aussehenden Stab, dessen Spitze ein blutroter Kristall zierte.

„Wer bist du?“, fragte Finnian bebend und wich instinktiv zurück.

„Ich heiße Lyra“, erwiderte sie ruhig und trat näher. „Aber mein Name ist nicht wichtig. Gib mir den Splitter, und ich lasse dich vielleicht am Leben.“

Trau ihr nicht, warnte die Kristallseele eindringlich. Sie dient der Dunkelheit.

Finnian schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann ihn dir nicht geben.“

Lyra lächelte kalt. „Oh, glaub mir, du wirst ihn mir geben. Früher oder später.“

Sie hob den Stab, und augenblicklich zuckte ein blutroter Blitz hervor, der knapp an Finnian vorbeizischte und die Wand hinter ihm zersprengte. Steine flogen durch den Raum, während Finnian zur Seite sprang und Schutz hinter einer halb zerbrochenen Säule suchte.

„Ich möchte dir nicht wehtun, Junge“, rief Lyra höhnisch. „Doch ich werde tun, was getan werden muss.“

Finnian presste den Splitter gegen seine Brust, dessen Pulsieren nun regelrecht heiß wurde.

Lass mich dir helfen. Lass mich deine Stärke sein, sagte die Seele mit sanftem Nachdruck.

„Ich vertraue dir“, flüsterte Finnian zurück.

Er fühlte sofort, wie sich eine überwältigende Kraft in ihm erhob. Seine Hände begannen zu leuchten, diesmal heller und sicherer als zuvor, und eine Welle reiner Magie durchfloss ihn, die er mit einer Handbewegung gegen Lyra schleuderte.

Die Frau wurde von der Kraft getroffen, taumelte jedoch nur kurz, bevor sie sich fing und zornig zurückstarrte. „Du hast keine Ahnung, womit du spielst, Junge!“

Mit einem wütenden Schrei entfesselte sie einen Sturm aus schwarzem Feuer, der sich wie eine lebendige Kreatur auf Finnian stürzte. Doch diesmal reagierte Finnian schnell. Er hob beide Hände, und ein Schild aus blauviolettem Licht erschien um ihn herum, das die Dunkelheit abprallen ließ und harmlos zerstreute.

„Ich lasse nicht zu, dass du ihn bekommst!“, rief Finnian mutig, obwohl sein Herz in der Brust raste.

Lyra schnaubte wütend. „Du kannst nicht gewinnen. Selbst wenn du mich besiegst – es werden noch andere kommen. Mächtigere, gefährlichere.“

„Dann werde ich auch ihnen widerstehen!“, entgegnete Finnian entschlossen.

Lyra starrte ihn einen langen Moment an, bevor sie plötzlich lächelte – diesmal jedoch bitter und beinahe bedauernd.

„So sei es. Doch glaub mir, Junge, dieser Kampf endet nie. Du hast dich gerade erst entschieden, aber der Preis ist höher, als du es dir vorstellen kannst.“

Dann hob sie den Stab erneut, doch anstatt Finnian anzugreifen, ließ sie einen schwarzen Nebel erscheinen, der sie augenblicklich verschlang und verschwinden ließ.

Stille kehrte zurück in den Turm. Finnian sank zitternd zu Boden, erschöpft von der magischen Anstrengung und den Emotionen, die in ihm tobten.

„Was meinte sie damit?“, fragte er erschöpft.

Dass dies erst der Anfang war, antwortete die Seele leise. Unsere Aufgabe ist schwer, doch sie ist notwendig.

Finnian blickte zu dem blassen Kristall in der Raummitte. „Kann ich es schaffen?“

Nicht allein. Aber gemeinsam können wir die Dunkelheit zurückdrängen.

Er stand langsam auf, trat erneut an das Podest und streckte diesmal entschlossen die Hand aus. In dem Moment, in dem seine Finger den Herzsplitter berührten, flutete ihn eine Vision, klar und deutlich:

Er sah eine große Schlacht, ein zerbrochenes Land, und mitten darin ihn selbst – erwachsen, stark, mit dem Kristall in der Hand. Doch er war nicht allein. Andere Splitter waren bei ihm, ihre Träger an seiner Seite, gemeinsam verbunden gegen die Finsternis.

Finnian öffnete die Augen und wusste nun mit absoluter Gewissheit, dass sein Weg gerade erst begonnen hatte.

Jetzt beginnt unsere wahre Reise, sagte der Splitter leise, und Finnian nickte entschlossen.

„Ja“, erwiderte er, und zum ersten Mal seit Tagen lächelte er schwach. „Gehen wir den Weg gemeinsam.“

Mit dem Herzsplitter in der Hand verließ Finnian den Turm der Erinnerung, bereit, der Dunkelheit entgegenzutreten – und sein Schicksal zu erfüllen.

Fortsetzung folgt...
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