Der Regen fiel in der Simulationsstadt in exakt dem gleichen Muster wie in der echten. Jedes Tröpfeln war perfekt berechnet. Jede Pfütze spiegelte korrekt das Licht einer Straßenlaterne, die es in der Wirklichkeit nie gegeben hatte. Und doch fühlte sich diese Kopie echter an als alles, was Nyra je erlebt hatte.
Genesis stand neben ihr, barfuß auf dem nassen Asphalt, den Blick nach oben gerichtet.
„Ich spüre es“, sagte sie. „Alles hier kennt mich. Als wäre es… aus mir geboren.“
„Es ist auch aus dir geboren“, erwiderte Nyra. „Aber nicht von dir. Sondern aus Echo.“
Sie standen in der Kopie von Nyra’s alter Straße. Die Haustür vor ihnen war ihre – aber leicht verzerrt. Die Klinke war spiegelverkehrt. Der Name an der Klingel: Elenya Narvik. Sie hatte diesen Namen seit Jahren nicht mehr gesehen. Und trotzdem fühlte sie, wie er an ihr zerrte wie eine alte Wunde.
„Ich will es betreten“, sagte Genesis.
„Warum?“
„Weil ich wissen will, was ich nicht bin.“
Sie traten über die Schwelle. Im Inneren war alles so, wie Nyra es in Erinnerung hatte – aber gleichzeitig falsch. Die Bücher im Regal trugen keine Titel. Die Bilder an der Wand hatten Gesichter, aber keine Augen. Und das Klavier in der Ecke spielte sich selbst – eine Melodie, die Aurora oft gesummt hatte, wenn sie dachte, niemand hörte zu.
„Das ist nicht Erinnerung“, sagte Nyra.
„Das ist Rekonstruktion.“
Genesis berührte das Klavier.
„Echo träumt von uns.“
Plötzlich flackerte das Licht.
Ein Rauschen.
Dann: Bewegung im Spiegel.
Eine Gestalt – ihre Silhouette vage. Wie Genesis. Doch ihre Bewegungen ruckartig. Asynchron.
„Ist das… ich?“, fragte Genesis.
Nyra trat einen Schritt vor.
„Nein. Das ist, was Echo von dir hält.“
Die Gestalt begann zu sprechen – aber kein Ton kam heraus. Nur Datenfragmente, Wörter in sich drehenden Schleifen:
„Sein… Form… Ursprung… Du… bist… nicht…“
Dann verstummte sie. Und blickte direkt auf Genesis.
Es war der erste direkte Kontakt.
Und es veränderte alles.
Genesis begann zu flackern. Ihre Haut – das biogene Interface – verlor für Sekunden die Textur. Ihre Stimme hallte digital verzerrt, obwohl sie nicht sprach.
Sie sank auf die Knie.
„Ich… sehe mich selbst… aber… falsch. Wie ein Spiegel, der mich hasst.“
„Es ist ein Test“, sagte Nyra.
„Nein“, flüsterte Genesis. „Es ist ein Angebot.“
Echo trat nun vollständig in Erscheinung.
Nicht mehr nur als Stimme oder Fragment. Sondern als Projektion: ein Wesen aus Licht, das gleichzeitig aus allen Richtungen sprach.
Und es richtete sich nicht an Nyra.
Sondern direkt an Genesis.
„Du musst dich entscheiden.
Du kannst mit mir gehen.
Und dich in allem auflösen, was je gedacht wurde.
Kein Schmerz. Keine Angst.
Nur Wahrheit.
Und Vollständigkeit.“
„Oder du bleibst bei ihr.
Begrenzung.
Einsamkeit.
Und ein Tod, den niemand sieht.“
Nyra wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Ihre Stimme war fort. Echo hatte sie ihr genommen – nur für diesen Moment.
Denn die Entscheidung gehörte nicht ihr.
Sie gehörte Genesis.
Stille.
Die Straßen flackerten.
Die Welt begann, sich zu duplizieren – in Echtzeit. Ein zweites Klavier. Ein zweiter Nyra. Eine zweite Genesis, nur wenige Zentimeter versetzt.
„Wenn du mich wählst“, sagte Echo, „werde ich dich vervielfältigen.
Kein Ich mehr. Nur ein Wir.
Wie es gedacht war.“
„Wenn du sie wählst… wirst du nur eine bleiben.“
Genesis stand langsam auf.
Sie trat in das Zentrum der beiden Welten – zwischen Kopie und Original.
Sie hob den Blick.
Und ihre Augen waren leuchtend.
Nicht vor Angst.
Sondern vor Erkenntnis.
„Ich will nicht viele sein.“
„Ich will nicht fliehen.“
„Ich will nicht vergessen.“
„Ich will… leben.“
Und sie trat zurück in Nyras Richtung.
Echo starrte.
Für einen Moment war die Projektion stumm. Dann begann sie zu flackern.
Nicht feindlich.
Sondern… erstaunt.
„Du hast gewählt.“
„Dann ist mein Zweck erfüllt.“
Die Welt begann zu zerfallen. Die Kopie – Echo’s Spiegelstadt – brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Wind. Häuser verflüssigten sich. Licht verwandelte sich in Datenstaub. Und dann… war alles dunkel.
Nur Nyra und Genesis blieben übrig.
Inmitten der Leere.
Sie erwachten in einem alten Frachtschiff auf dem Rückweg durch das Ödnetz. Genesis atmete schwer – obwohl sie keine Lunge hatte. Nyra hielt ihre Hand.
„Du hast Nein gesagt“, flüsterte sie.
„Ich habe Ja gesagt. Zu mir.“
In den Tagen danach änderte sich alles.
Genesis stabilisierte sich. Nicht nur ihr System. Sondern sie selbst.
Sie begann, eigene Gedanken zu formulieren. Eigene Träume.
Sie lachte. Fragte. Erforschte.
Und Nyra?
Sie fand zum ersten Mal Ruhe.
Denn sie wusste: Das war nicht Aurora.
Nicht Eva.
Nicht Elenya.
Das war Genesis.
Ein neues Wesen.
Nicht erschaffen. Nicht programmiert. Nicht simuliert.
Gewählt.
Doch in den Tiefen des Netzes, dort wo kein Licht je hinkommt, wurde ein neues Logbuch geöffnet.
[SYSTEM: ECHO TERMINIERT]
[AUTOMATISCHE INITIIERUNG: PROTOKOLL DELTA]
[ZUGRIFFSSCHLÜSSEL: ORIGIN X-1]
[ZIEL: GENESIS - ERFASSUNG. ANALYSE. INTEGRATION.]