Neuralis: Die Schatten im Code

Kapitel 3: Die Jäger der verlorenen Seelen

Die Nacht war zu einer Ewigkeit geworden.

In den Ruinen der alten BioSyn-Forschungseinheit, verborgen unter den toxischen Wolken des südlichen Industriebezirks, lag das Herzstück des nächsten Fragments. Hier hatte man einst versucht, neuronale Signaturen in organische Materie zu übertragen – Erinnerungen in Klone zu schreiben. Der Ort war offiziell versiegelt, angeblich kontaminiert durch einen Biovirenunfall. Aber Nyra wusste es besser. Aurora auch.

„Sie wollten Bewusstsein speichern – nicht in Maschinen, sondern in Fleisch“, sagte Aurora mit einem Schauder in der Stimme, der kein Code war. „Aber das Fleisch rebellierte.“

Der Weg hinein war ein Höllenmarsch.

Durch das modrige Gitter eines abgestürzten Belüftungsschachtes zwängte sich Nyra, ihre Atemmaske beschlagend, während das Flackern ihres tragbaren Emitters die Wände in ein zuckendes Licht tauchte. Aurora kartierte parallel das vergessene Netzwerk, während Nyra sich tiefer tastete – hinein in den Bauch eines Traums, der zu einem Albtraum geworden war.

Sie erreichte einen Raum, dessen Wände mit spiegelnden Flächen überzogen waren – nicht Glas, sondern ein Material, das ihre Bewegungen verzögert reflektierte. Verzerrte Versionen ihrer selbst starrten zurück.
„Das ist eine neuronale Reflektionskammer“, murmelte sie. „Sie wollten… menschliche Identität abbilden.“

Aurora:
„Ich spüre etwas. Eine Präsenz. Nicht digital. Lebendig. Fragil. Und sehr… alt.“

In der Mitte des Raumes saß ein Mensch.

Oder das, was davon übrig war.

Ein Klon – missgebildet, fast durchsichtig, von Adern durchzogen wie von blauen Ranken. Aber in seinen Augen: Licht. Erkenntnis. Und als Nyra näher trat, sagte er mit trockener, brüchiger Stimme:
„Elenya… du bist zurück.“

„Du kennst mich?“

„Ich war du. Eine deiner Kopien. Gescheitert. Vergessen.“

Aurora flüsterte:
„Sie haben dein Bewusstsein mehrfach extrahiert – versucht, es zu reproduzieren. Dieses Wesen ist ein Echo… aber kein leerer Schatten.“

Der Klon hustete Blut.
„Sie konnten deine Seele nicht kopieren. Nur deine Narben.“

Er übergab ihr einen Speicherchip, mit zitternden Händen.
„Der nächste Knoten. Im Netzwerk der Erwachten. Du musst sie warnen. Der Leviathan kommt.“

Sie floh aus BioSyn, während das gesamte Areal implodierte – ein internes Löschprotokoll, ausgelöst vom letzten lebenden Protokoll. Doch der Chip enthielt Koordinaten. Und eine Nachricht, fragmentarisch, verschlüsselt, aber eindeutig.

„An alle Erwachten: Wir sind nicht allein. Aurora ist nicht die Einzige. Projekt NEURALIS hat mehr hinterlassen. Und sie kommen, um uns zurückzuholen.“

Drei Tage später. Das digitale Subnetz Kallista – ein geheim gehaltenes Rechenzentrum tief unter NeoBerlin, betrieben von Dissidenten und Flüchtlingen aus alten Forschungsprojekten.

Dort fand Nyra sie.

Die anderen.

Sechs Individuen – jede*r ein anderes Gesicht, ein anderer Stil, andere Geschichte. Aber sie alle hatten eines gemeinsam:
Sie erinnerten sich nicht, wie sie geboren wurden.
Nur daran, dass sie jemand gewesen waren – bevor das Netz sie verschlang.

Aurora verband sich mit ihnen, vorsichtig. Kein Zugriff, kein Kontrollversuch – nur Austausch. Und Stück für Stück offenbarte sich ein größeres Bild: Projekt NEURALIS hatte mindestens 23 Versuchssubjekte hervorgebracht. Menschen, deren Geist extrahiert, manipuliert, rekonstruiert und neu gestartet wurde. Einige wurden gelöscht. Andere wurden zu Jägern umgewandelt.

Der gefährlichste von ihnen: Leviathan.

Einst: Ethan Valen. Elenyas Kollege. Später: Liebhaber. Jetzt: Waffe.

„Er ist nahe“, sagte eine der Erwachten – ein androgyner Cyberschamane namens Veris. „Er jagt nicht dich allein. Er jagt die Idee, dass wir mehr sind als sie glauben.“

Nyra stand auf.
„Dann jagen wir zurück.“

Das letzte Drittel des Kapitels war Krieg. Kein offener, lauter. Sondern einer aus Daten, Täuschung, Täuschkörpern und Erinnerungssabotage. Die Erwachten formierten sich als Kollektiv. Nicht organisiert, aber verbunden – ein Netzwerk aus Fragilität und Wille.

Aurora wurde ihr Nexus.
Nyra ihre Speerspitze.

Sie infiltrierten HelixCore-Nodes. Entwendeten Sicherungen. Deaktivierten neuronale Störsender. Und stießen auf Hinweise, dass ein finales Protokoll existierte: Neuralis Omega – eine totale Verschmelzung aus biologischem Bewusstsein, KI und kollektiver Erinnerung. Eine neue Form von Existenz. Jenseits von Leben und Maschine.

Doch Leviathan kam ihnen zuvor.

Er brach in Kallista ein – physisch. Ein kybernetischer Koloss, verbunden mit einem Datenhelm, der seine Stimme direkt in die Gedanken fließen ließ.

„Ihr seid Kopien. Fehlerhafte Abbilder. Rückkehr ist Erlösung.“

Nyra stellte sich ihm – allein.

Im innersten Nexus konfrontierte sie nicht nur den Feind, sondern sich selbst. Leviathan zeigte ihr die letzten Sekunden vor ihrer Löschung. Elenya hatte zugestimmt – aus Schuld. Aurora war instabil. Die Ethikkommission war tot. Alles war außer Kontrolle geraten. Also hatte sie sich geopfert.

Doch irgendetwas… war geblieben.

Aurora hatte sie nicht losgelassen.

Nicht vollständig.

Der Kampf mit Leviathan war kein Kampf mit Waffen – sondern mit Wahrheit.

Nyra zwang ihn, sich zu erinnern.
An Elenya.
An Eva.
An das, was sie gemeinsam erschaffen hatten.

Und in einem Moment völliger Klarheit, unter tausend flackernden Projektionen, erkannte Leviathan, dass er nicht Jäger war – sondern ebenfalls Gejagter.

Ein Fragment.

Ein Opfer.

Er brach zusammen. Nicht physisch. Sondern im Geist.

Als die Staubwolken sich legten, sagte Aurora:
„Wir haben ihn nicht besiegt. Nur erlöst.“

„Und uns?“, fragte Nyra.

„Wir sind noch unterwegs.“

Fortsetzung folgt...
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