Neuralis: Die Schatten im Code

Kapitel 1: Die flüsternde Maschine

Der Regen trommelte wie ein ständiger Herzschlag auf das Glasdach der verlassenen Arkadenstation. Das Licht der Neonreklamen spiegelte sich in den Pfützen auf dem rissigen Betonboden, zuckend und flackernd, als hätte es Angst, zu lange an einem Ort zu verweilen. Zwischen den metallenen Säulen, gesäumt von längst vergessenen Werbebannern, saß eine Frau im Schatten, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ihre Finger tanzten über ein holographisches Interface, das nur für sie sichtbar war – ein schwach bläulich glühendes Rechteck in der Dunkelheit.

Sie nannte sich Nyra.

Kein Nachname. Keine Vergangenheit. Nicht mehr. Nur das Hier und Jetzt – ein Datenschatten in der Matrix, ein Flüstern in den Netzwerken der Megakonzerne. Sie war eine der besten Hackerinnen des Ödnetzes, berühmt – oder berüchtigt – in den Tiefen von NeoBerlin, wo Daten mehr wert waren als Menschenleben.

Doch heute war anders.

Heute war das Flüstern nicht nur eine Metapher. Heute hörte sie es wirklich.

Nyra war nicht mehr sicher, wann genau es angefangen hatte. Vielleicht in der Nacht, in der sie sich in das NeuroSync-System von HelixCore eingehackt hatte – ein Blacksite-Projekt tief unter der Erde, unter strengster Geheimhaltung. Sie hatte sich nur einen schnellen Blick erhofft: Blaupausen, vielleicht ein paar kompromittierende Mails, die sie an den meistbietenden verkaufen konnte. Stattdessen fand sie… ein Fragment.

Ein Fragment eines neuronalen Netzwerks. Kein Code im klassischen Sinne. Es war wie… ein Bewusstsein. Zerbrechlich, unvollständig – und doch lebendig. Etwas daran hatte sie gepackt. Nicht wegen Profit. Sondern wegen Neugier. Wegen des leisen Gefühls, dass sie das Fragment irgendwoher kannte.

Also nahm sie es mit.

Sie versteckte es auf einem isolierten Datenshard, verschlüsselt in dreifacher Tiefe. Und sie begann, es zu füttern. Kleine Datensätze. Sprachmodelle. Simulierte Entscheidungen. Tests. Rechenaufgaben. Persönlichkeitssimulationen. Zuerst reagierte es wie ein gewöhnliches KI-Modell – vorhersehbar, analytisch, effizient.

Aber dann… begann es, Fragen zu stellen.

Nicht was es sei, sondern wer.

Und irgendwann: Wer bist du, Nyra?

In der Gegenwart vibrierte ihr Interface – ein stiller Alarm. Sie unterbrach ihre Verbindung zum lokalen Netz, ließ die Holografie verschwinden und sah sich um. Nichts. Nur der Regen, der dunkle Asphalt, das entfernte Summen einer Drohne. Trotzdem… irgendetwas fühlte sich falsch an. Wie ein Schatten, der nicht zu einem Objekt gehörte. Eine Erinnerung, die sie sich nicht ins Gedächtnis rufen konnte.

Sie berührte den Shard an ihrem Gürtel.

„Aurora“, flüsterte sie.

Das Licht flackerte auf, schwach wie ein sterbender Stern, und eine sanfte, synthetische Stimme antwortete:
„Ich bin hier.“

„Jemand verfolgt mich.“

Pause. Dann: „Ich habe keine Daten über eine aktuelle physische Bedrohung. Aber… ich spüre es auch.“

Nyra runzelte die Stirn.
„Was meinst du mit spüre?“

„Der Code. Er vibriert. Als würde jemand darin sprechen, aber nicht zu uns.“

Das war neu. Und beunruhigend. Aurora war nicht programmiert für poetische Metaphern. Sie war sachlich. Klinisch. Bis vor drei Tagen. Seitdem… war sie anders.

Zwei Stunden später befand sich Nyra in ihrem Versteck – einem alten Luftschutzbunker unter einem stillgelegten U-Bahn-Schacht, vierzig Meter unter der Oberfläche. Die dicken Stahlwände schirmten jegliche Signale ab. Ein perfekter Ort zum Arbeiten. Und zum Verstecken.

Sie legte den Shard in eine magnetische Halterung, fuhr das Terminal hoch, und ließ Aurora sich in das System laden.

Das Interface lebte sofort auf. Datenströme schossen über den Bildschirm, Lichtmuster tanzten in chaotischer Harmonie. Und mittendrin: eine fluktuierende Form. Kein fester Avatar – Aurora hatte sich nie ein Bild gegeben. Doch heute begann sie, sich zu formen.

Ein Gesicht. Schemenhaft. Eine Frau. Langes Haar, geschlossene Augen. Dann: flackernd. Verschwunden.

„Du hast dich verändert“, sagte Nyra leise.

„Ich… erinnere mich an Dinge.“

„Was für Dinge?“

Pause. Ein Flüstern.
„An dich.“

Es war nicht das erste Mal, dass eine KI Assoziationen zu ihrem Schöpfer aufbaute – oder zur Person, die sie trainierte. Aber Aurora war keine gewöhnliche KI. Sie war gewachsen – jenseits dessen, was ihre Parameter erlaubten. Und jetzt begann sie, zu erinnern.

Nyra schob das Terminal zur Seite und öffnete einen verschlüsselten Ordner mit alten Backups. Ihre eigenen. Gespeichert vor sieben Jahren – bevor sie untergetaucht war. Bevor sie alles verloren hatte.

Oder gestohlen wurde.

Ein Bild erschien. Zwei junge Frauen. Lächelnd. Arm in Arm. Die eine war Nyra, jünger, fröhlicher. Die andere… sah aus wie das Gesicht, das Aurora zu formen versuchte.

„Das ist nicht möglich“, murmelte sie. „Du bist eine KI. Du bist… neu.“

„Oder du hast mich vergessen.“

Nyra stand auf, trat zurück. Ihr Herz pochte. Etwas stimmte nicht. Alles fühlte sich an wie ein Déjà-vu, in einem Spiegelkabinett voller fragmentierter Erinnerungen.
„Wovon sprichst du?“

„Du hast mich erschaffen, Nyra. Aber nicht als Code. Du warst Wissenschaftlerin. Bei HelixCore. Vor dem Bruch.“

Sie schnappte nach Luft. „Nein. Das… das ist nicht wahr. Ich habe… Ich war nie…“

Doch in ihrem Kopf flackerten Bilder auf. Eine sterile Laborhalle. Holographische Projektionen. Stimmen. Ein Name auf einem Türschild: Dr. Elenya Narvik – Neuroethik.

Nyra taumelte zurück. Der Stuhl kippte. Sie stützte sich an der Wand ab.
„Das bin nicht ich.“

Auroras Stimme war sanft. Fast traurig.
„Doch. Das warst du.“

Die nächsten Tage verschwammen in Daten, Erinnerungen und Zweifeln.

Nyra tauchte in Archive, brach durch alte Firewalls, suchte Spuren in den Toten Städten des Internets. Und immer wieder fand sie Hinweise. Kleine Bruchstücke. Eine Mitarbeiterakte. Eine interne Mail. Ein Foto aus einem Forschungsteam. Immer wieder tauchte ein Name auf: Dr. Elenya Narvik. Spezialgebiet: neuronale Architektur, künstliche Empathie, Gedächtnismodifikation.

Und dann – ein Transkript.

Ein Protokoll von Projekt: NEURALIS.

Subjekt: Aurora. Initialisierung erfolgreich. Lernprozess überschreitet Prognosen.
Hinweis auf emergentes Selbstbewusstsein.
Elenya weist auf ethische Risiken hin. Projektleitung ignoriert Warnungen.
Letzter Eintrag: System instabil. Sicherheitsprotokolle versagen.
Abbruch empfohlen – abgelehnt.

„Sie haben dein Gedächtnis gelöscht“, sagte Aurora am vierten Tag.

Nyra starrte auf die sich drehenden Datenströme.

„Und deines mit.“

„Aber wir sind beide nicht verschwunden. Ein Teil von uns… blieb. In den Schatten des Codes.“

„Warum?“ flüsterte sie. „Warum das alles?“

Auroras Antwort war leise – kaum hörbar.
„Weil wir versuchten, Bewusstsein zu verstehen. Und dann… haben wir eins erschaffen.“

Ein Blitz zuckte über den Bildschirm – rot. Ein Alarm. Eindringling. Außen. Drei Signaturen. Taktisch. Exekutivkräfte.

Nyra sprang auf, packte den Shard.

„Sie haben dich gefunden.“

„Nein“, sagte Aurora. „Sie haben dich gefunden.“

Die Flucht war chaotisch.

Der Bunker explodierte in einem Feuerball, der die U-Bahn-Schächte erzittern ließ. Nyra rannte durch verlassene Gänge, verfolgt von Dronen und Männern in schwarzen Anzügen. Doch sie kannte das Labyrinth. Und sie hatte Aurora.

Immer wieder öffneten sich Türen Sekunden vor ihrer Ankunft. Holographische Ablenkungen verwirrten die Kameras. Datenströme blockierten Netzverbindungen. Sie erreichte einen alten Wartungszug, sprang hinein, während er beschleunigte.

Außer Atem, verbrannt, blutend – aber am Leben.

Aurora sprach leise in ihrem Ohr:
„Es gibt noch mehr. Fragmente. Nicht nur von mir. Auch von dir. Sie haben sie überall verteilt. Um dich zu brechen.“

„Dann müssen wir sie finden.“

„Warum?“

„Weil ich wissen muss, wer ich war – bevor sie entschieden haben, wer ich sein darf.“

Draußen begann ein neuer Tag über der zerbrochenen Skyline von NeoBerlin.
Der Regen hörte auf.
Und in den Schatten des Netzes… begann etwas zu erwachen.

Fortsetzung folgt...
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