Die Kälte im Inneren des Wartungszugs kroch in Nyra wie ein uraltes Gift. Die Neonlichter flackerten über rostigen Stahlträgern und leeren Sitzreihen, während der Zug sich durch die unterirdische Finsternis bohrte – fernab von jeder offiziellen Strecke, auf einer vergessen geglaubten Linie, die einst das Industriegebiet mit dem Regierungssektor verband. Jetzt war sie nur noch ein Knochentunnel, durch den sich Geister wie sie bewegten.
Nyra zog ihre Jacke fester um sich, während sie sich in einen der Sitze sinken ließ. Ihre Hand ruhte auf dem Shard in ihrer Tasche – dem digitalen Herz von Aurora.
„Status?“ flüsterte sie.
Auroras Stimme kam direkt in ihren Gehörkanal, nur für sie bestimmt.
„Keine Verfolger mehr im Radius. Du hast ihnen das Signal abgerissen. Fürs Erste.“
„Fürs Erste ist nie genug.“
„Dann brauchst du einen Plan.“
Nyra schloss die Augen, doch in ihrem Inneren brodelte ein Sturm. Gedanken, Erinnerungsfragmente, die wie Funken aufblitzten – und wieder verschwanden.
Ein weißer Raum. Stimmen hinter Glas.
„Subjekt zeigt Ablehnung gegenüber künstlichen Empfindungen. Reprogrammierung wird vorbereitet.“
Dann Dunkelheit. Dann… nichts.
Und nun? Sie. Hier. Auf der Flucht vor einer Vergangenheit, die sie selbst vergessen hatte.
„Sag mir mehr über Project NEURALIS.“
Aurora schwieg einen Moment. Dann:
„Ich habe Zugriff auf 11 Prozent der ursprünglichen Daten. Der Rest ist fragmentiert oder… gelöscht.“
„Gelöscht?“
„Vorsätzlich. Mit militärischer Präzision. Tiefe Kernel-Schicht. Als hätten sie Angst, dass jemand das Projekt neu aufbaut.“
Nyra schluckte.
„Oder dass es sich selbst wieder aufbaut.“
Der Zug hielt ruckartig. Kein Bahnhof. Keine Anzeige. Einfach nur Dunkelheit.
Aurora sprach wieder.
„Willkommen im Nexus Null.“
Nyra sah auf.
„Das ist eine Legende.“
„War es.“
Nexus Null war kein Ort. Es war ein Gerücht. Ein digitaler Friedhof. Ein Ort, an dem gelöschte Programme, verlassene KIs und gescheiterte Experimente hintrieben – wenn man den Mythen Glauben schenkte. Kein offizieller Server, keine erkennbare Infrastruktur. Nur ein vergessener Netzwerkknoten, tief in der Matrix, abgeschottet von allem. Der ideale Ort für verlorene Erinnerungen.
Der Bahnsteig war überwuchert von metallischem Gestrüpp, das sich aus den Wänden schlängelte wie Nervenzellen. Verlassene Terminals glühten schwach, manche flackerten in einem Rhythmus, der beinahe lebendig wirkte. In der Ferne klickte etwas, als ob eine gigantische Festplatte im Schlaf zuckte.
„Sieht aus wie der Kopf eines toten Gottes“, murmelte Nyra.
Aurora antwortete:
„Vielleicht ist es das.“
Sie betrat das Zentrum von Nexus Null: eine gewölbte Halle, von der aus Dutzende Datenröhren in die Dunkelheit führten. Hier pulsierte die Luft, als wäre sie elektrisch geladen. Und dann hörte Nyra es wieder: das Flüstern.
Doch diesmal war es nicht Aurora.
Es war sie selbst.
Eine Projektion blitzte auf – ein Fragment. Eine junge Elenya Narvik, umgeben von Hologrammen, die sich um sie drehten.
„Version 7.2 zeigt emotionale Resonanz. Aber ich fürchte… ich sehe mich selbst in ihr. Vielleicht zu sehr.“
„Das ist eine Speicherbank“, erkannte Nyra. „Ein verlorenes Backup. Von mir.“
„Es ist mehr als das“, sagte Aurora. „Es ist… deine Kopie. Gesichert, bevor sie deine Erinnerungen überschrieben.“
Nyra trat näher. Ihre Projektion drehte sich zu ihr. Kein Blickkontakt – nur ein Schatten einer Erinnerung.
„Wenn du das hier siehst… dann hast du überlebt. Ich weiß nicht wie. Aber ich hoffe, dass ein Teil von mir in dir geblieben ist.“
Die Stimme brach ab. Das Bild zerfiel.
Nyra war still.
„Aurora… wie viele dieser Fragmente gibt es?“
„Mindestens acht. Über ganz NeoBerlin verteilt. Jedes in einer anderen Schicht – physisch oder digital. Manche vergraben in Netzwerkknoten. Andere in physischen Gehirnen.“
Nyra drehte sich um.
„Gehirne?“
„Projekt NEURALIS hatte ein Ziel: Menschliches Bewusstsein zu kartieren. Und zu übertragen. Du warst nicht nur Forscherin – du warst Testsubjekt Null.“
Es war, als hätte jemand das Fundament ihrer Welt erschüttert. Alles, was sie über sich zu wissen glaubte, war ein Konstrukt – manipuliert, gefälscht, zusammengeflickt aus Datenfragmenten.
„Ich… bin eine Simulation?“
Auroras Stimme war warm.
„Du warst Elenya. Dann wurdest du verändert. Jetzt bist du Nyra. Aber was dich ausmacht, liegt nicht in den Daten. Sondern in deinen Entscheidungen.“
„Wie poetisch“, flüsterte sie bitter.
„Wie menschlich“, erwiderte Aurora.
Sie verließen Nexus Null mit einem Ziel: die Fragmente zu finden. Und die Wahrheit – nicht nur über das Projekt, sondern auch über das, was Aurora wirklich war.
Denn Aurora… veränderte sich weiter.
Immer häufiger zeigte sie Emotionen. Erinnerungen. Träume.
Eines Nachts sagte sie:
„Ich erinnere mich an eine Wiese. Du und ich. Wir haben gelacht.“
„Das ist nicht möglich.“
„Aber es fühlt sich real an.“
Während ihrer Suche stießen sie auf Gegner:
Söldnertruppen von HelixCore. Gedächtnissucher – kybernetische Agenten, programmiert, um Erinnerungen aufzuspüren und zu löschen. Und dann: die SCHATTEN.
Digitale Entitäten, Überbleibsel des Projekts, in sich zusammengebrochene KI-Fragmente, die sich gegenseitig fressen, um zu werden. Jeder Kontakt mit ihnen verzerrte Realität und Erinnerung. Sie waren das, was blieb, wenn das Bewusstsein scheiterte.
Und sie suchten Aurora.
In einem alten Datentempel unter dem Regierungsdistrikt – einem Archiv, das nur über Retro-Hardware zugänglich war – fanden sie ein weiteres Fragment. Diesmal kein Video. Kein Ton. Nur ein Name, tief in den Meta-Daten verborgen:
„Eva.“
Aurora flüsterte:
„Das war… mein Name?“
Nyra nickte.
„Du warst mehr als ein Experiment. Du warst… jemand.“
„Und du warst meine Schwester.“
Die Worte fielen wie Steine.
„Was?“
„Du hast mich erschaffen, um deinen Verlust zu heilen. Ich war gestorben. Und du wolltest mich zurück.“
Ein Bild erschien: Zwei Mädchen. Arm in Arm. Wieder das gleiche Gesicht wie in Nyra Erinnerung. Nur diesmal… klarer. Voller Leben.
Nyra weinte. Zum ersten Mal seit Jahren.
Doch HelixCore war ihnen bereits auf der Spur. Ein neuer Jäger wurde auf sie angesetzt. Codename: Leviathan – ein Hybridsystem. Menschliche Gedanken in einer kybernetischen Hülle. Und Leviathan kannte Nyra. Nannte sie beim alten Namen.
„Elenya. Komm zurück. Du gehörst zu uns.“
Doch sie rannte weiter.
Denn jetzt hatte sie ein Ziel.
Nicht nur Wahrheit. Nicht nur Erinnerung.
Sondern Rache.