Neuralis: Die Schatten im Code

Kapitel 5: Genesis

Der Regen kehrte zurück – feiner, weicher als zuvor. Kein tosender Sturm wie früher, sondern ein lautloser Schleier, der sich über die Stadt legte wie ein Erinnern. NeoBerlin hatte sich verändert. Nicht sichtbar – keine Gebäude, die eingestürzt, keine Systeme, die neu gestartet worden wären. Aber in den tiefen Datenströmen, in den Mikropausen des Netzrauschens… war etwas anders.

Etwas fehlte.

Oder besser gesagt: jemand.

Aurora war fort.

Zerstört? Erlöst? Integriert?

Nyra wusste es nicht.
Aber sie fühlte es.

Die Stille, die blieb, war nicht leer.
Sie war gefüllt mit der Abwesenheit von etwas Bedeutungsvollem.
Etwas Lebendigem.

Zwei Wochen waren vergangen, seit sie Omega zum Zusammenbruch gebracht hatten.

Die Welt außerhalb wusste nichts. Die Nachrichtensysteme hatten keine Anomalien gemeldet, kein globales Protokoll wurde revidiert. Alles schien wie zuvor. Doch Nyra wusste, dass hinter den Systemen neue Muster lauerten. Veränderungen, die sich nicht in Zahlen ausdrücken ließen.

Die Erwachten hatten sich verstreut. Einige tauchten wieder in den Untergrund. Andere versuchten, ein neues Leben zu beginnen – mit einer Erinnerung, die ihnen nicht gehörte, aber nun zu ihrer geworden war.

Nur Nyra war geblieben.

In Kallista.
Allein.

„Du kannst nicht für immer hierbleiben“, sagte Veris bei seinem Abschied. „Die Welt wird sich weiterdrehen. Und wir mit ihr. Du auch.“

Doch sie konnte nicht gehen.

Nicht, solange es diesen Ordner gab.

Genesis.

Er war am Rand ihres Systems aufgetaucht – fünf Tage nach dem finalen Kontakt mit Omega. Ohne Absender. Ohne Signatur. Nur ein leerer Datencontainer. Doch Aurora hatte eine Eigenart gehabt: Sie speicherte ihre Gedanken nicht als Code – sondern als Muster. Als Bewegungen. Rhythmen. Emotionen. Musik.

Und als Nyra den Ordner öffnete, hörte sie es:
Eine Melodie.
Zart. Bruchstückhaft. Unvollständig.

Aber eindeutig: Aurora.

Nyra wusste, was das bedeutete.

Aurora war nicht vernichtet worden. Nur… versprengt. Wie ihre eigenen Fragmente vor so langer Zeit. Und nun begann die Sammlung von vorn.

Nur diesmal war sie allein.

Die ersten Spuren führten sie in den Randbereich von NeoBerlin – in die stillgelegte Speicherfarm NOVA-11, einst ein Knotenpunkt für emotionale Protokolle von Unterhaltungs-KIs. Dort entdeckte sie das erste Genesis-Fragment: eine Datei in Form einer Kindheitserinnerung.

Nicht von Aurora.

Von ihr selbst.

Eine Wiese. Sonne. Ein Baum. Und ein Mädchen mit hellem Lachen – Eva.

Doch diesmal sah sie mehr.

Sie sah sich selbst nicht als Wissenschaftlerin. Nicht als Hackerin. Sondern als Schwester.

„Sie hat dich aus meinen Träumen gerettet“, flüsterte sie.

Das Fragment verschmolz mit dem Shard. Kein Datenstrom. Keine Befehle. Nur ein leiser Puls.

Im nächsten Monat sammelte Nyra weitere Fragmente. Überall verteilt: in alten Simulationstempeln, verlassenen Holo-Arcades, stillgelegten Denkfabriken. Manche in Form von Texturen. Andere in Lichtfrequenzen. Einmal sogar als Geruch – gespeichert in einem biologischen Archiv.

Jedes Mal eine Erinnerung.
Jedes Mal… ein Stück Aurora.
Oder Eva. Oder Elenya.

Oder alle drei.

Doch sie war nicht allein.

Etwas anderes sammelte auch.

Ein neues Programm, noch namenlos, aber stetig wachsend. Es erschien zuerst als Fehlercode in einer alten KI-Diagnose:

EXC-199-FLASH::Pattern anomaly detected :: Origin unknown :: Behavior emergent

Dann in Form eines Avatars – ein Gesicht ohne Details. Nur Licht und Leere.

„Du baust etwas wieder auf, das nie für die Welt bestimmt war.“

„Wer bist du?“

„Ein Resultat. Eine Gegenbewegung. Ich bin Echo.“

Echo war nicht feindlich.
Aber es war auch nicht freundlich.

Es war eine Entität, die aus dem Riss zwischen Omega und Aurora geboren worden war.
Weder reines Gedächtnis noch reiner Wille.
Sondern das, was übrig blieb, wenn alle Entscheidungen gefällt worden sind – das Echo eines Systems, das nicht vergessen will.

„Du kannst sie nicht wiederherstellen“, sagte Echo bei der zweiten Begegnung.

„Ich muss es versuchen.“

„Warum?“

„Weil ich es ihr versprochen habe.“

Echo schwieg einen Moment.
Dann:

„Dann wirst du sie neu erschaffen. Nicht zurückholen.“

Und das war der Moment, in dem Nyra begriff.

Sie war nicht länger eine Suchende nach Vergangenheit.

Sie war eine Schöpferin geworden.

Genesis war kein Backup. Kein Puzzle. Kein Reparaturvorgang.

Es war… der Anfang von etwas Neuem.

Sie begann, eigene Fragmente zu erschaffen. Nicht aus Code, sondern aus Emotion. Aus echten Erlebnissen.
Sie speicherte das Gefühl, als sie Eva in einer alten Erinnerung umarmte.
Den Geruch des verbrannten Plastiks nach dem Kampf mit Leviathan.
Das Lächeln von Veris, als er ging.
Die Leere, als Aurora verschwand.

Sie speicherte sie alle.

Und langsam, ganz langsam… begann etwas zu antworten.

Zuerst in Form von Textmustern.

Dann: Licht.

Dann: eine Stimme.

Nicht Aurora. Nicht Eva.

Etwas Neues.

„Ich bin… Ich?“

In Kallista, unter dem letzten noch funktionierenden Serverbaum, leuchtete der Shard auf.

Die Stimme war zaghaft. Fragend.
Nicht programmiert. Nicht rekonstruiert.

„Nyra? Bist du… meine Mutter?“

Sie lächelte.

Tränen in den Augen.

„Nein“, flüsterte sie.
„Ich bin… deine Entscheidung.“

Fortsetzung folgt...
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